Rohrdommel
Jun 162009
 

Wohnraumnot und Blutgrätsche

Warum die Rohrdommel nicht einfach „umziehen“ kann und was das mit Fußball zu tun hat

(iz) Unlängst äußerten sich Vertreter der Wirtschaftsverbände, namentlich AWV-Präsident Martin Steinbrecher, über den Konflikt zwischen Naturschutz und wirtschaftlicher Nutzung im Voslapper Groden: Die Rohrdommel möge doch einfach umziehen. Wir versuchen ihm zu erklären, warum das eben nicht so einfach geht.

Im vertrauten Kreise der Wirtschaftsfachleute (AWV-Wirtschaftsforum Anfang Mai) fragte Herr Steinbrecher: „Menschen müssen wegen des Naturschutzes umziehen. Warum sollte die Rohrdommel nicht genauso flexibel sein?“ Diese Frage können und wollen Naturschutzfachleute gern beantworten. Wenn es denn so einfach wäre für diese sensible Vogelart, von ihrem angestammten Lebensraum in einen anderen zu wechseln, dann wäre ihr Bestand nicht auf heute gerade noch 15 bis 20 Exemplare in ganz Niedersachsen geschrumpft. Zwei Paare davon brüten im Voslapper Groden.
In einem Gutachten des Niedersächsischen Landesbetriebes für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz (NLWKN) vom November 2007 steht zu lesen: „Aus landesweiter Sicht ist das Vorkommen der vom Aussterben bedrohten Rohrdommel von essenzieller Bedeutung, denn im Voslapper Groden Nord und Süd kommen derzeit ca. 30-40% des aktuellen niedersächsischen Gesamtbestandes an Rohrdommeln in hoher Stetigkeit vor.“

Traum-Immobilie Voslapper Groden

Als Bruthabitat bevorzugt die Rohrdommel störungsfreie Verlandungsröhrichte von Stillgewässern. Zur Nahrungssuche und zum Nestbau benötigt sie ausgedehnte, baumlose Flachufer mit breiten, wasserdurchfluteten Schilf-Röhrichtbeständen. Mit gut 200 Hektar Sumpf-, Röhricht- und Wasserflächen ist allein der Voslapper Groden Nord die Traum-Immobilie für jede Rohrdommel.
Bei Wiefels investierte die staatliche Vogelschutzwarte unlängst knapp 45.000 Euro, um ein Feuchtgebiet so umzustrukturieren, dass dort beobachtete Rohrdommeln es auch als Brutplatz annehmen. So leicht lässt sich allerdings ein Brutplatz nicht „nachbauen“. Das Mosaik verschiedenster Lebensraumtypen im Voslapper Groden, das neben der Rohrdommel noch etwa 50 weitere (auch gefährdete) Vogelarten als Brutplatz anzieht, ist mindestens niedersachsenweit einmalig, und der Mensch kann nicht einfach irgendwo anders etwas reproduzieren, was die Natur hervorgebracht hat. Zwar wurden die Flächen vor gut 30 Jahren von Menschenhand aufgespült, doch entscheidend für die vielfältige Struktur ist zum einen der Untergrund aus ehemaligen Watten und Salzwiesen, zum anderen die Zusammensetzung der aufgespülten Sedimente, die verschiedensten Erdzeitaltern entstammen und sich nach Naturgesetzen verteilen, die der Mensch nicht beeinflussen kann.
„Aufgrund der großflächigen und eng verzahnten Ausstattung mit seltenen Biotoptypen sowie weitgehender Störungsarmut in den Kernflächen siedelte sich eine große Zahl von seltenen und bedrohten Vogelarten an“, fasst das NLWKN-Gutachten zusammen. „Für Tüpfelsumpfhuhn, Blaukehlchen (herausragende Brutdichten), Schilfrohrsänger, Wasserralle und Rohrschwirl ist der Voslapper Groden eines der wichtigsten Brutgebiete in Niedersachsen.“

Täglich 167 Fußballfelder

Könnte die Rohrdommel einfach umziehen, dann wäre sie nicht in den Roten Listen der bedrohten Tierarten Deutschlands und Niedersachsens aufgeführt, dann gehörte sie nicht – neben Tüpfelsumpfhuhn, Blaukehlchen, Rohrschwirl, Schilfrohrsänger und Wasserralle – zu den wertbestimmenden Arten, die in der EU-Vogelschutzrichtlinie aufgeführt sind. Denn nicht nur in Wilhelmshaven, sondern deutschland- und europaweit entscheiden täglich Kommunal- oder Regionalpolitiker zugunsten der Wirtschaft über die Zerstörung gefährdeter Lebensräume. Die Summe der Einzelentscheidungen führt dann zur endgültigen Auslöschung von Tier- und Pflanzenarten. Doch jeder entscheidet weiter in seinem kleinen Dunstkreis nach der Devise „wird schon nicht so schlimm sein“ – ohne zu überlegen, dass die Nachbarn ebenfalls einen Bebauungsplan nach dem anderen auf den Weg bringen.
Seit vielen Jahren verschwindet allein in Deutschland Tag für Tag eine Fläche in der Größe von 120 Hektar unter Stein und Beton, Parkplätzen und Gewerbegebieten. Das entspricht der Größe eines stattlichen landwirtschaftlichen Betriebes (Haupterwerb, Durchschnitt bundesweit: knapp 60 ha). Um die Dimensionen zu verdeutlichen, nehmen wir mal eine Maßeinheit, die den meisten Deutschen und auch Herrn Steinbrecher geläufiger sein dürfte:

Ein Fußballfeld (Länderspielstandard) misst 68 x 105 m = 7149 m2 = 0,72 Hektar
Täglicher Flächenverbrauch BRD – 167 Fußballfelder
Größe des Naturschutzgebietes Voslapper Groden Süd = 380 ha = 528 Fußballfelder
Größe des Naturschutzgebietes Voslapper Groden Nord = 267 ha = 370 Fußballfelder

Bereits 12,3% der Fläche Deutschlands werden als Siedlungs- und Verkehrsfläche genutzt (Tendenz weiterhin steigend).
Die Rohrdommel hat übrigens zur Brutzeit einen Raumbedarf von 40 bis 50 ha = 55 bis 70 Fußballfelder. Das Blaukehlchen begnügt sich mit 1,5 Hektar (2 Fußballfelder) für das Kinderzimmer und umzu, dafür sind aber auch fast 60 Paare allein im nördlichen Groden zu Hause.

Lange Bauzeiten

Der NLWKN errechnet allein für den Voslapper Groden Nord einen Kompensationsbedarf (Ersatzflächen) von 287 ha, bei einer Regenerationszeit von (je nach Lebensraumtyp) bis zu 25 Jahren. Es wird eingeräumt, dass es im neu hergerichteten Ersatzlebensraum „funktionale Defizite“ durch abweichende chemisch-physikalische Faktoren und lange Regenerationszeiten geben kann – deshalb der Flächenzuschlag (Kompensation >1:1). Rechnerisch ist das alles sauber hergeleitet – bei dem traurigen Restbestand an Rohrdommeln ist es allerdings ein gewagtes Unternehmen, zu testen, ob die Tiere sich auf so lange Bauzeiten für das neue Domizil und abweichende Wohnqualität einlassen.

In Wilhelmshaven scheint die Rohrdommel in bestimmten Kreisen mittlerweile der meistgehasste Vogel zu sein. Das ist nicht überall so: Am Dümmer gibt es einen Rohrdommelweg nebst einem Gasthof namens „Zur Rohrdommel“ sowie die Seglervereinigung „Rohrdommel Hüde“.
Faktenverweigerung

Schade, dass Herr Steinbrecher und seine Freunde nicht am Tag nach dem „Wirtschaftsforum“ zu dem eindrucksvollen öffentlichen Vortrag über die biologische Vielfalt im Voslapper Groden gekommen sind, zu dem die Naturschutzgruppe des deutschen Alpenvereins und befreundete Naturschutzverbände eingeladen hatten. Statt – wie nun seit Jahren – laienhaft falsche Behauptungen die Welt zu setzen, wäre dies die große Chance gewesen, dass sich Wirtschaftsfachleute auch in Sachen Naturschutz schlau machen. Es geht im Voslapper Groden beileibe nicht „nur“ um eine einzige Rohrdommel, sondern um ein paar Dutzend wertvolle Brutvogelarten, dazu eine Vielfalt bedrohter Lebensräume, die auch zahlreichen geschützten Pflanzen, darunter allein 13.000 (!) Orchideen vier verschiedener Arten, ein Refugium sind.
Gern werden die Beteiligten den Vortrag das ein oder andere Mal wiederholen – ob für die Wirtschaftsverbände oder auch für den Rat der Stadt. Voraussetzung ist die Bereitschaft, sich – inklusive Fragen und Diskussion – etwa zwei Stunden lang naturschutzfachlich fortzubilden und auf diese offenbar fremde Materie einzulassen.
Seitens der Umweltverbände ist diese Bereitschaft da, sich mit anderen Fachinteressen auseinanderzusetzen. Auch Naturschutzfachleute sind Menschen, die mit der Region verhaftet sind und nicht nur am Wohlergehen von Tieren und Pflanzen, sondern auch ihrer Mitmenschen interessiert sind. Auch sie möchten, dass Arbeitsplätze geschaffen werden – im Einklang mit der Natur. Doch Lebensqualität bedeutet nicht nur ein festes Einkommen. Lebensqualität macht sich nicht an Eigenheim und Auto fest. Lebensqualität bedeutet auch die Nähe zu intakter Natur als Erholungs- und Entspannungsraum, die jedem Menschen als Grundrecht zusteht, ohne erst eine weite Urlaubsreise in fremde Länder antreten zu müssen.
Deshalb ist nicht nachvollziehbar, dass ohne Not dieses Kleinod – der Voslapper Groden mit der Rohrdommel als Symbolart – zerstört werden werden soll. Ohne Not bedeutet: Zunächst gilt es doch einmal, nach Fertigstellung des Containerterminals ansiedlungswillige Betriebe auf dem neu entstandenen Hafengroden direkt neben der Kaje unterzubringen, bis diese Fläche ausgeschöpft ist. Dann stehen auch noch Flächen auf dem Rüstersieler und dem Heppenser Groden zur Verfügung, die im Landesraumordnungsprogramm gleichfalls für hafenbegleitende Nutzung ausgewiesen sind. Und erst wenn diese Flächen und weitere Gewerbegebiete in Wilhelmshaven und im Umland (das auch einen Stück vom JadeWeserPort-Kuchen abhaben möchte und sollte) alle bebaut sind, darf man darüber nachdenken, bei konkreten – und nicht nur herbeigesehnten – Investorenwünschen den Voslapper Groden ins Kalkül zu ziehen. Und selbst dann besteht kein Anlass, dieses einmalige Naturgebiet gleich en bloc „plattzumachen“. Was bleibt, ist das Problem, dass sich die Zerstörung nicht kompensieren ließe – eine derartige Strukturvielfalt lässt sich eben nicht einfach irgendwo „nachbauen“.

Wer umzieht, bestimmt die Wirtschaft

Bleibt eine Frage an Herrn Steinbrecher: Wo bitte müssen oder mussten jemals Menschen „wegen des Naturschutzes umziehen“, wie er behauptet? Menschen mussten und müssen umziehen, weil neue Straßen gebaut werden. Weil Flächen für den Bergbau in Anspruch genommen werden. Unter Stauseen, Talsperren, Abraumhalden verschwand und verschwinden weltweit bis heute Häuser, Dörfer, Heimat und kulturelles Erbe. Menschen mussten umziehen, als das PVC-Werk und die Raffinerie im Voslapper Groden entstanden. Wer sich weigerte, wie die standhafte Hermine Eilers, wurde zwangsgeräumt.
Na gut, neulich musste in Spanien mal ein Prominenter umziehen, der verdonnert wurde, seine illegal in einem Naturschutzgebiet gebaute Villa wieder abzureißen. Der arme Kerl muss jetzt umziehen, in eine andere seiner Villen.
Aber üblicherweise entscheiden die Wirtschaft und ihre Lobby in Politik und Medien, ob es Menschen zumutbar ist, ihre angestammte Heimat zu verlassen – je nachdem, welche Argumente benötigt werden. Ist es gerade mal wieder angesagt, auf Arbeitslosen rumzuhacken, dann wird lauthals gefordert, die Menschen müssten beweglich sein und notfalls unter Aufgabe aller sozialen Beziehungen quer durch die Republik Richtung Arbeitsplatz nomadisieren. Ist jedoch ein Unternehmen auf einen bestimmten Standort fixiert, dann wird auf die Tränendrüse gedrückt: Ein Investitionsvorhaben muss genau an diesem Standort umgesetzt werden, damit die armen Menschen, die dort arbeiten oder theoretisch arbeiten könnten, nicht umziehen müssen. Auf diese Art hat es zum Beispiel die Meyer-Werft erreicht, in Papenburg kleben zu bleiben, statt 50 km weiter ans kreuzfahrtschiffstiefe Wasser in Emden zu ziehen. (Das ist in etwa die Strecke, die täglich viele Arbeitnehmer/innen zwischen Oldenburg und Wilhelmshaven pendeln.) Für die Meyersche Klebkraft wurden und werden weiterhin Steuergelder in astronomischer Höhe versenkt, um einen Fluss in einen annähernd toten Kanal zu verwandeln – was weder ökologisch noch volkswirtschaftlich Sinn macht.
Mensch und Natur haben sich den Bedürfnissen der Wirtschaft anzupassen und nicht umgekehrt. Das ist die Realität, Herr Steinbrecher. Wir freuen uns auf Ihren Besuch beim nächsten Vortrag des DAV zum Voslapper Groden.
Vortrag im Rahmen der Fachtagung der Norddeutschen Naturschutzakademie zur FFH-Verträglichkeitsprüfung am 28. November 2007

 

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