Psychiatrie am Meer
Jun 302005
 

Namhafte Referenten sprachen über interessante Themen

(noa) Am 18. Juni gab es im Terramare eine interessante Veranstaltung, das Kolloquium „Psychiatrie am Meer“. Es war nicht die erste Veranstaltung dieser Art und wird auch nicht die letzte sein. Diesmal fand sie allerdings bei strahlendem Sonnenschein statt und war auch deshalb dazu geeignet, den auswärtigen TeilnehmerInnen einen guten Eindruck von Wilhelmshaven zu vermitteln.

Zwar war das Kolloquium konzipiert als Fortbildungsveranstaltung für ÄrztInnen und PsychologInnen, doch mindestens ebenso zahlreich wie diese waren Angehörige begleitender Dienste im psychiatrischen Bereich, Pflegekräfte aus Kliniken und Beschäftigte von Pflegediensten vertreten. Organisiert, geleitet und moderiert wurde die Veranstaltung von Prof. Dr. Here Folkerts, dem Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Reinhard-Nieter-Krankenhaus, und dank des Sponsorings der Arzneimittelfirma Lilly gab es vorab, zwischendurch und zum Abschluss leckere Häppchen.

Depression

In seinem Vortrag „Vom Nürnberger zum Europäischen Bündnis gegen Depression“ nannte Prof. Dr. Ulrich Hegerl aus München zunächst einmal einige erschreckende Zahlen: Man muss damit rechnen, dass es in Deutschland etwa 4 Millionen Menschen mit behandlungsbedürftigen Depressionen gibt, von denen aber schätzungsweise nur 30 bis 35 % eine entsprechende Diagnose haben und – noch schlimmer – nur etwa 6 bis 9 % ausreichend behandelt werden. Währenddessen ist in den letzten zwanzig Jahren eine Zunahme psychischer Erkrankungen als Ursache von Krankschreibungen zu verzeichnen. Und da Depressionen häufig zu Suizidversuchen führen (und mehr Menschen durch Suizid sterben als an AIDS und durch Unfälle oder Mord zusammengenommen), sollte das ein Grund sein, etwas zu unternehmen. Das „Nürnberger Bündnis gegen Depression“ sprach in einem dichten Netz aus ÄrztInnen, PsychologInnen, SeelsorgerInnen, PädagogInnen, Pflegekräften und anderen Fachkräften die Menschen an. Plakate und Kinospots machten Betroffene und Angehörige sowie andere Bezugspersonen auf die Krankheit in ihren verschiedenen Erscheinungsformen aufmerksam und wiesen Wege zu wirksamer Hilfe. Multiplikatoren wurden fortgebildet; es gab Angebote für Risikogruppen; Videos für HausärztInnen und PatientInnen wurden gemacht und zur Verfügung gestellt.
Da alle Aktionen des Nürnberger Bündnisses wissenschaftlich begleitet wurden und die Wirksamkeit der verschiedenen Interventionen untersucht wurde, weiß man jetzt, wie man den vielen depressiven Menschen, die ansonsten leiden, ohne wirksame Hilfe zu finden, zu einem besseren Leben verhelfen kann. Deshalb wurde dasselbe Programm mittlerweile schon in vielen anderen Städten, auch außerhalb Deutschlands, entsprechend aufgenommen. In Wilhelmshaven ist es in Planung.

Schizophrenie

Auch Prof. Dr. Gerhard Buckremer aus Tübingen, der zum Thema „Psychotherapie bei schizophrenen Patienten“ sprach, begann seinen Vortrag mit Zahlen. Von dieser Krankheit ist nur etwa 1 % der Bevölkerung betroffen, und doch ist sie sehr teuer: Pro Rückfall entstehen Behandlungskosten in Höhe von 15.000 Euro. Rückfälle zu vermeiden ist also nicht nur für die betroffenen PatientInnen wünschenswert, sondern auch für die Krankenkassen.
Vor dem letzten Krieg dauerte eine Krankenhausbehandlung für Schizophrene 7 bis 8 Jahre. Seither hat die Verweildauer kontinuierlich abgenommen, und heute werden Menschen mit dieser Krankheit nach einem meist kurzen Klinikaufenthalt ambulant behandelt. Allerdings besteht die Behandlung in vielen Fällen nur aus der Dauermedikation mit Neuroleptika. Vielfach wird angenommen, dass man auch sonst nichts tun könne, um Rückfälle zu vermeiden. Zwar ist die tiefe Kluft zwischen der „biologischen Fraktion“ unter den Psychiatern, die Medikamente verschreiben und sonst nichts tun, einerseits und den Sozialpsychiatern andererseits nicht mehr so tief wie noch vor 10 oder 20 Jahren, doch es gibt noch nicht viele Studien zur Wirksamkeit von Psychotherapie für diesen PatientInnenkreis. Buckremer sprach nun von seinen Forschungen auf diesem Gebiet und nannte die Merkmale einer sinnvollen Psychotherapie: Weniger konfliktorientiert und eher rehabilitativ, die Affektaktualisierung vermeidend und auf eine intrapsychische Harmonisierung abzielend kann sie die Kranken befähigen, ihre Frühwarnsymptome zu erkennen, den nächsten Schub hinauszuschieben oder zu vermeiden und damit weitere Krankenhausaufenthalte zu erübrigen oder doch wenigstens zu verkürzen. Allerdings: Die Psychotherapie für Schizophrene wirkt, solange sie andauert, muss also lebensbegleitend sein. Und: Sie hilft im Allgemeinen nur zusätzlich zu den Medikamenten, macht diese keineswegs überflüssig.

Selbstverletzung

Dr. Elisabeth Ehmann-Hänsch aus Lengerich berichtete über „Selbstverletzung bei jungen Menschen – Erfahrungen, medizinische Hilfe und zukünftige Strategien der Kooperation“ – wobei der letzte Teil des Titels wegen des Zeitdrucks gegen Ende der Veranstaltung leider etwas kurz wegkam. Ausführlich jedoch – und zum Teil grausig – war der Teil „Erfahrungen“. So einige ZuhörerInnen erschauerten, als sie erfuhren, dass neuerdings Schädeltrepanationen (da lassen sich Menschen ohne ausreichende Betäubung und ohne irgendwelchen Sinn und Zweck Löcher in die Schädeldecke bohren) wieder in Mode sind oder dass Jahr für Jahr 60 Zungen nach einem Piercing sich so übel und therapieresistent entzünden, dass sie amputiert werden müssen. Da muten einen die Unterarmritzereien junger Mädchen, die wohl jeder und jede im Bekanntenkreis kennt, vergleichsweise harmlos an. Die sind es aber wahrscheinlich, die aus einer so großen psychischen Not heraus vorgenommen werden, dass man sie als Hilfeschrei sehen muss, während die vielfältigen Formen der „Body Modification“ eher eine Modeerscheinung sind.
Selbstverletzung junger Menschen stellt Eltern und andere Bezugspersonen vor schier unlösbare Fragen; klar jedoch behauptet Dr. Ehmann-Hänsch, dass sie nicht suizidal ist, sondern im Gegenteil der Selbsterhaltung dient – die Jugendlichen fügen sich Wunden und Schmerz zu, um sich wahrzunehmen, sich ihrer Lebendigkeit zu versichern. Sie ritzen und schneiden zur Affektabfuhr – „Wo sollen die Menschen mit ihren Affekten hin, wo sie doch schon lange nicht mehr artgerecht leben?“, fragt Dr. Ehmann-Hänsch.
Anders als die beiden ersten Referenten trug sie keine Forschungsergebnisse vor. Wusste man nach den vorhergegangenen Vorträgen (oder glaubte es auch nur zu wissen), was zu tun ist, ließ dieser Vortrag viele Fragen offen. Da die in Frage kommenden PatientInnen keine einheitliche Diagnose haben, wird es auch kaum möglich sein, klare Antworten auf die Frage nach wirksamer Therapie zu finden. Und so ließ die Referentin den einen Zuhörer oder die andere Zuhörerin unzufrieden zurück.

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