Missbrauch
Wenn zwei das Gleiche tun, ist das noch lange nicht das Gleiche???
(noa) Schlechte Zeiten für „schwarze Schafe“, war in der WZ vom 15. Juli ein Artikel über Leistungsmissbrauch durch Hartz IV-BezieherInnen überschrieben. Die Behauptung, dass Menschen, die wegen langjähriger Erwerbslosigkeit Hilfe nach dem SGB II in Anspruch nehmen müssen, überwiegend Strolche sind, die unrechtmäßig unsere Steuergelder kassieren, gehört ja eher zum Bestick der Bild-Zeitung, aber im Sommerloch lässt sich auch die WZ mal herab, in dieses Horn zu tuten.
Und so hieß es da nun also, dass vom 1. Januar bis zum Datum des Artikels schon über 100.000 Euro an Rückforderungen angefallen seien. „Als wirksames Mittel hat sich der Abgleich mit Daten der Versicherungsträger erwiesen“, heißt es im Vorspann des Artikels, und tatsächlich gab es in der 1. Hälfte des Jahres zwei Fälle, in denen jemand die Aufnahme einer Arbeit nicht angezeigt und weiter Alg II kassiert hat.
Wenn jemand eine richtige (versicherungspflichtige, vollzeitige, tariflich entlohnte) Arbeit hat und sich beim Job-Center nicht abmeldet, dann ist das schon ein Hammer, aber leider steht in dem Artikel nicht, ob das in diesen beiden Fällen zutraf; und die 100.000 Euro Rückforderung beinhalten neben diesen beiden noch zwei Personen, die bei Antragstellung ihr Vermögen nicht angezeigt haben (das man ja erst verbrauchen muss, bevor man Alg II beanspruchen darf). So richtig aussagekräftig ist die Summe also nicht. Aber unabhängig davon muss man eines gleichzeitig im Blick behalten: Zu Zeiten des „alten“ Sozialhilferechts (vor Hartz IV) war der Missbrauch durch Hilfeempfänger in seinem Gesamtumfang weit niedriger als der Missbrauch durch den Leistungsträger, sprich: Die Summe der Gelder, auf die Arme Anspruch gehabt hätten, die sie aber nicht bekamen (weil man ihnen nicht gesagt hatte, dass sie einen Anspruch haben, weil man sie durch die Behauptung, sie hätten keinen Anspruch, davon abgehalten hat, einen Antrag zu stellen, weil man ihre Leistung falsch berechnet hat usw.) überstieg die Summe, um die die Behörden betuppt wurden, um ein Vielfaches.
Wie es sich diesbezüglich beim SGB II verhält, darüber sind uns keine Untersuchungen bekannt. Wir kennen aber Einzelfälle, aus denen sich Rückschlüsse ziehen lassen.
Zum Beispiel: Eine Hartz IV-Berechtigte zeigt den 6. Geburtstag ihres Sohnes nicht an. Dieser hat nun Anspruch auf 19 Euro mehr Unterhalt im Monat, und diese 19 Euro werden ja von seinem Sozialgeld wieder abgezogen. Die Mutter kassiert also zu Unrecht (?) fünf Monate lang je 19 Euro, bevor sie endlich mitteilt, dass ihr Kind älter geworden ist. Umgehend werden ihr die zuviel erhaltenen 95 Euro in Raten wieder einbehalten, und nach wenigen Monaten ist alles wieder in Ordnung. Sie schuldet dem Job-Center nichts mehr (ob der Kindesvater den erhöhten Unterhalt auch gezahlt hat, steht auf einem anderen Blatt).
Da kommt ein Jahr nach der verspäteten Anzeige über die Alterung des Sohnes Post vom Amt. Die Leistungsempfängerin soll wegen der damaligen Verletzung ihrer Mitwirkungspflicht innerhalb von 14 Tagen 35 Euro Verwarngeld überweisen. Wenn sie das nicht tun, wird ein Bußgeld von 2500 Euro fällig. – Beides konnte abgewendet werden, aber der Versuch war da.
Ein weiteres Beispiel: Ein Arbeitsloser hilft einem Kumpel, der einen Flohmarktstand betreibt. Seine Frau ergreift die Gelegenheit und stellt einen kleinen Tisch mit Babykleidung, aus denen die kleine Tochter rausgewachsen ist, dazu, und die größere Tochter, die befürchtet, sie würde sich allein zu Hause zu Tode langweilen, stellt einen weiteren kleinen Tisch mit ein paar Spielsachen dazu.
Zwei Tage nach dem Flohmarkt bekommt die Familie schon Post vom Job-Center mit der Aufforderung, ihre Flohmarkteinkünfte aufzulisten. Und weitere zwei Tage später trudelt noch ein Brief ein: Der Familienvater soll die Bezugsquellen und Einkaufspreise für die Elektroartikel, die er auf dem Flohmarkt angeboten haben soll, nennen. (Der Kumpel, dem er geholfen hat, verkauft Elektroartikel.)
Beim Termin im Job-Center wird die Familie zuerst einmal darüber „aufgeklärt“, dass sie Leistungen zu Unrecht erschlichen hat und mit einer Strafanzeige wegen Betruges zu rechnen hat. Und das für einen „Reinerlös“ von gut 12 Euro aus dem Verkauf der Babysachen!
„Ob der Leistungsmissbrauch als Bagatelle, als Ordnungswidrigkeit oder als Straftat eingestuft wird, das hängt von den näheren Umständen ab“, schreibt die WZ im o.a. Artikel. Die bewusste Familie hat bislang noch keine Mitteilung darüber bekommen, wie ihr Fall vom Job-Center eingestuft wird, und bangt noch immer.
Noch ein Beispiel: Die 100 Euro, die Schülerinnen und Schüler pro Schuljahr bekommen (und die die Kosten für den Schulbesuch bei weitem nicht decken), sind in diesem Jahr in vielen Fällen nicht ausgezahlt worden. Frau P., für deren Familie es insgesamt immerhin 400 Euro sind, musste mehrere Male hingehen und nörgeln, bevor sie das Geld bekam (nachdem sie schon Schulden für die Anschaffung der Schulsachen gemacht hatte), Frau R. musste für ihren Sohn, der die 2. Klasse besucht, eine Schulbescheinigung herbeischaffen (es könnte ja sein, dass er in einem Schuljahr schon seine gesamte Schulpflicht absolviert hat!), Frau A. hat das Schulgeld für ihre Tochter immer noch nicht, Frau L. erfährt bei ihrer Nachfrage etwas von einem Computerfehler.
Für die Betrügereien der Hilfeempfänger gibt es ein Wort. „Leistungsmissbrauch“. Wie soll man das Verhalten des Leistungsträgers nennen? „Machtmissbrauch“?
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