Lebenslust
Okt 082008
 

Von wegen unsichtbar

Lust und Liebe sind auch mit „50 plus“ noch Thema

(iz) Wenn Teenager über eine „Gammelfleischparty“ lästern, dann geht es nicht etwa um abgelaufenes Grillgut, sondern eine Feier mit Leuten über 30. Für die ältere Generation ist dieser überzogene Jugendkult weniger lustig, sondern belastend, wie die Beratungsstellen von Pro Familia in Niedersachsen wissen. Umso besser, dass jetzt auch die Wilhelmshavener Arbeitsgemeinschaft „Frauen und Gesundheit“ das Thema „Lebenslust mit 50 plus“ aufgriff.


Einen hervorragenden Einstieg lieferte Silke Wendland, Koordinatorin des neuen niedersächsischen pro-familia-Projektes „Liebe, Lust und Älterwerden“, mit ihrem Vortrag „Von wegen unsichtbar“. Die Beratungsstellen verzeichnen eine steigende Zahl von „älteren“ Menschen (gemeint sind über 50-Jährige), die Probleme damit haben, als freud- und geschlechtslose Wesen abgestempelt zu werden. Aus diesem Anlass wurden spezielle Programme zu diesem Thema aufgelegt und MitarbeiterInnen entsprechend geschult. Doch „die Expertinnen sind SIE!“, verriet Wendland den schätzungsweise etwa 80 Frauen, die zu dem Vortrag im „Treff auf Siebethsburg“ gekommen waren.
Zunächst zeigte Wendland Fotos von Frauen zwischen 50 und (geschätzt) über 80 Jahren, jeweils kombiniert mit einer kurzen Frage: „Zu alt zum Flirten? Sexy? Attraktiv genug?“ Vereinzelt kam ein ablehnendes „nee!“ aus dem Publikum, doch überwiegend ein nachdenklich-beredtes Schweigen. Sofort kam frau ins Grübeln: Ist das jetzt meine persönliche Meinung? Oder reproduziere ich hier gesellschaftlich zementierte Bilder? Spätestens jetzt waren die Zuhörerinnen mittendrin und offen für die Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen, die Wendland kurz und prägnant vorstellte.
Laut der Studie eines Kosmetikunternehmens, wie Frauen über 50 wahrgenommen werden, sagten von den Befragten „nicht sexy“: 74% / „nicht schön“: 64% / „flirten weniger / haben weniger Sex als Jüngere“: 45%.
„Harter Tobak!“, fasste die Referentin zusammen. Untermauert wurde das durch Fotos von Iris Berben (58) und Hannelore Elsner (66), die gemeinhin als sehr attraktiv empfunden werden – und zwar nicht deshalb, weil sie die schöne Ausstrahlung ihres Alters besitzen, sondern weil sie deutlich jünger wirken als sie sind. Männer fortgeschrittenen Alters wie Sky Dumont oder Mario Adorf gelten hingegen gerade durch ihre Falten und grauen Schläfen als besonders sexy. Und wenn sie dann noch deutlich jüngere Partnerinnen haben, ist das ein Zeichen für ihre Vitalität. Haben ältere Frauen junge Liebhaber, so ist das „auffällig“ oder „peinlich“.

Gesellschaftliche Überzeugungen

Sex gilt bei uns als Privileg der Jugend, älter werden als Abbau- und Krankheitsprozess. Das Begehren nimmt vermeintlich mit dem Alter ab. Speziell bei Frauen scheinen sexuelle Funktionen an die Fruchtbarkeit gebunden zu sein. Ist sie nicht mehr fruchtbar, dann ist sie auch nicht begehrenswert. Die Wechseljahre gelten als „hormonelle Mangelkrankheit“.

Selbstwahrnehmung

Eine EMNID-Umfrage vom März 2008 unter 500 Frauen zwischen 50 und 65 Jahren wirft das Bild von der lustlosen Älteren endgültig über den Haufen. Von den Befragten fühlen sich

  • 49% attraktiver, 38% verführerischer, 34% sinnlicher als mit 30.
  • 90% haben (im Unterschied zu jüngeren Jahren) eine genaue Kenntnis ihres Körpers,
  • 38% flirten gern,
  • 92% haben mehr Selbstbewusstsein als früher,
  • 52% haben mehr Genuss beim Sex.
  • 42% empfinden eine gesellschaftliche Missbilligung dieser ihrer Gefühle und Bedürfnisse!
Der Trieb kennt kein Alter

Auch wissenschaftliche Erkenntnisse führen die herrschenden Vorurteile ad absurdum: Sexualität ist ein menschliches Grundbedürfnis, von der Geburt bis zum Tod. Die Lustgefühle halten zeitlebens an. Und: Die Sexualfunktionen altern im Vergleich zu anderen Körperfunktionen sehr langsam! Untersuchungen speziell zum weiblichen Geschlecht ergaben:

  • Die Fähigkeit zum Sex nimmt durch die Wechseljahre NICHT ab.
  • Frauen sind von Störungen der Sexualorgane weniger betroffen als Männer.
  • Frauen sind bis ins hohe Alter erregbar und orgasmusfähig.
Wunsch und Wirklichkeit

Eine andere Umfrage unter gut 500 deutschen Frauen zwischen 50 und 70 zeigte allerdings, dass deren Lebenswirklichkeit von den vorgenannten Bedürfnissen und Möglichkeiten stark abweicht. Der Wunsch nach sexueller Aktivität ist deutlich größer als die tatsächlich gelebte Sexualität: Von den 50-55-Jährigen haben 25% gar keinen Sex mehr, bei den 65-70-Jährigen sind es gar 66%.
Die Gründe für diese Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit sind vielfältig. Zunächst kann es im Alter körperliche und seelische Erkrankungen geben, die das Lustempfinden beeinträchtigen. Hinzu kommen sexuelle Erfahrungen, die die individuelle Einstellung beeinflussen. Für Frauen, die vor dem Beginn der sexuellen Befreiung inklusive gezielter Verhütung in den 1960er Jahren ihre ersten sexuellen Erfahrungen machten, kann Sex immer noch angst- und schambehaftet sein. Das Gleiche gilt natürlich bei schlechten Erfahrungen (Gewalt, Schmerz). Ausschlaggebend ist auch die partnerschaftliche Situation. Im Schnitt sterben Männer früher als Frauen, so dass es unter Älteren mehr alleinstehende Frauen gibt bzw. mit fortschreitendem Alter die Auswahl an möglichen neuen Partnern abnimmt. Hinzu kommt, dass Frauen von ihrem Mann/Partner verlassen werden wegen einer Jüngeren (die – vermeintlich – attraktiver ist bzw. den Mann attraktiver erscheinen lässt). Da bedarf es freilich einer intensiven Auseinandersetzung mit sich selbst, diese Demütigung abzuschütteln und ein „jetzt-erst-recht!“-Selbstbewusstsein neu aufzubauen.
In diesem Zusammenhang war es sehr erfrischend, dass die Referentin und auch die Teilnehmerinnen die Diskussion nicht auf heterosexuelle Bindungen beschränkten, sondern auch Lust und Liebe zwischen Frauen einbezogen, wie auch die Möglichkeit, mit sich selbst Zärtlichkeit und Erotik auszuleben.
„Frauen sind sich oft selbst die größten Feinde“, meinte eine Teilnehmerin. In der Tat werden gesellschaftliche Grundhaltungen durch jede/n Einzelne/n geprägt, und so ist es auch an den Frauen, ihre eigenen Einstellungen und deren Herkunft zu überdenken und in jeder Situation laut auszusprechen, was sie als falsch, ungerecht oder diskriminierend empfinden und damit auch dem männlich geprägten Frauen-Bild etwas entgegenzusetzen.
„Werden Sie sichtbar, seien Sie Vorbilder!“, lautete der abschließende Appell der Referentin. „Sex ist viel mehr als Geschlechtsverkehr – Sex ist, was wir daraus machen!“, fasste sie zusammen und ermunterte dazu, über das Thema zu sprechen und sich bei Problemen auch Beratung zu holen – in jedem Alter. Im Saal und beim Pausengetränk festigte sich das Gefühl, dass der Vortrag die Anwesenden wirklich aufgerüttelt hatte und sie sich auch über diesen Abend hinaus mit dem Thema beschäftigen werden.
Eine andere Form der Auseinandersetzung mit dem Thema „Lebenslust ab 50+“ bot ein Kabarettprogramm mit Liedern von Mascha Kaléko und Friedhelm Kändler, vorgetragen von Angelika Heinich (Klavierbegleitung: Manfred Szobries). Als Frau um die 50 sitzt Heinich in einer Bar und hadert mit sich und dem Leben. Ist sie auf der Suche nach der großen Liebe – oder nach sich selbst, oder bedingt eins das andere? Dabei lässt sie die ganze Bandbreite der Gefühle zwischen bitterem Selbstzweifel und feiner Selbstironie spielen, die sich in ihrem Publikum widerspiegelten. Einen weiteren kulturellen Beitrag zum Thema lieferte die Kinovorführung von „Elsa und Fred“, der Liebesgeschichte zweier Menschen über 70.
Der Arbeitsgemeinschaft „Frauen und Gesundheit“ ist zu danken für diese und kommende Veranstaltungsreihen, die dazu beitragen, die individuelle und gesellschaftliche Entwicklung von Frauen in unserer Stadt in Bewegung zu bringen.

Arbeitsgemeinschaft „Frauen und Gesundheit“
Die InitiatorInnen der Wilhelmshavener Arbeitsgemeinschaft „Frauen und Gesundheit“ sind Annett Jochens (Gesundheitsamt/Gesundheitsförderung), Annemarie Hellwig (Altenhilfe/Besuchsdienst), Ellen Wolbergs (Gleichstellungsbeauftragte der Stadt), Cathrin Schulz (pro familia) und Michael Kundy (Kinoplex). Gerade das Thema Liebe und Sexualität wird sehr stark durch die Medien geprägt, und insofern ist der Filmexperte eine gute Ergänzung der in der AG vertretenen Fachkompetenz. Vom bereits 1971 entstandenen Kultfilm „Harold and Maude“ mal abgesehen, werden Frauen und (Lebens-)Lust im Alter erst in jüngerer Zeit von Kino und TV ernst genommen („Wolke 9“, „Kirschblüten-Hanami“, „Elsa und Fred“).
Weblink: Pro familia Niedersachsen zu „Sexualität und Alter“: http://www.profamilia.de/article/show/2948.html

 

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