Kinderarmut 1
Jul 312007
 

Kinderarmut in Wilhelmshaven

Ein Drittel alle Wilhelmshavener Kinder lebt unter dem Existenzminimum

(noa) Zwei Gäste waren am 10. Juli bei der Monatsversammlung der Arbeitsloseninitiative Wilhelmshaven/Friesland. Michael Bättig von der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO) erklärte, wie arm wie viele Wilhelmshavener Kinder sind, und Carsten Feist, Leiter des Jugendamtes der Stadt Wilhelmshaven, bestätigte seine Angaben.


Laut „Frankfurter Rundschau“ vom 12.05.07 sagen Sozialexperten, dass ein 10-jähriges Kind für 4 € am Tag essen und trinken muss. Doch der Alg II-Regelsatz sieht für ein Kind unter 14 Jahren täglich nur 2,27 € für Essen und Trinken vor. Davon sind 0,79 € für das Mittagessen vorgesehen – doch ein Mittagessen in der Schule kostet zwischen 2 und 4 €.
438 € kosten die Schulmaterialien für ein 13-jähriges Kind nach Angaben des Verbandes allein erziehender Mütter und Väter – 0,00 € sind für diesen Zweck im Regelsatz enthalten.
Der Regelsatz wurde zum 1. Juli geringfügig erhöht (sh. Meldung auf dieser Seite). Doch wie wurde er eigentlich berechnet und festgelegt?

Neue Berechnungsweise senkte die Sätze

1998 erfolgte eine Umstellung vom bis dahin gebräuchlichen „Warenkorb“ zum sog. Statistikmodell. Für dieses werden die Verbrauchsgewohnheiten der 20 % Haushalte mit dem geringsten Einkommen ermittelt und alle fünf Jahre in der „Einkommens- und Verbrauchsstichprobe“ (EVS) aktualisiert. Die EVS von 1998 ergab einen Satz von 322 €, der zum 01.01.2005, dem Tag des Inkrafttretens von Hartz IV, auf 345 € hochgerechnet wurde.
Was ist falsch an der neuen Bemessungsweise? Ein großer Kritikpunkt daran ist die Tatsache, dass den „unteren“ 20 % der Haushalte zu einem großen Teil Rentner und Rentnerinnen angehören, und deren Verbrauchsgewohnheiten lassen sich auf jüngere Menschen nicht so einfach übertragen. So geben die alten Leute nachweislich weniger Geld als Berufstätige für Verkehrsmittel, für ihre Ernährung, für die Freizeit, für Kommunikation und für Bekleidung aus. Vor allem geben sie entschieden weniger Geld als Schulkinder für Schulmaterial aus!
In der Regelsatzbemessung gibt es „Abteilungen“ von Ausgaben. In der neuen Regelsatzbemessung wurden die Abteilungen (02) = alkoholische Getränke und Tabakwaren und (10) = Bildungswesen ganz gestrichen. Das ist der zweite große Kritikpunkt an der neuen Berechnung.
Und der dritte Kritikpunkt betrifft die Verschlechterungen gegenüber der früheren Sozialhilfe: So wurden die Weihnachtsbeihilfe und der Kindergeldfreibetrag gestrichen, die prozentualen Anteile für Stromkosten, Telefon, Freizeit und Genussmittel wurden abgesenkt, und die Kontoführungsgebühren und die Zuzahlungen im Gesundheitswesen wurden nicht in voller Höhe übernommen.
Und so bedeutet der Regelsatz konkret zum Beispiel, dass eine Familie, bestehend aus Mutter, Vater und zwei Kindern unter 14 Jahren, ganze 2,65 € zum Frühstück und je 4,74 € für das Mittag- und das Abendessen ausgeben kann – mal ’n Apfel oder ’n Fruchtjoghurt zwischendurch fällt sowieso aus. Und den Apfel oder den Joghurt zwischendurch braucht ein Schulkind eigentlich schon.

Bei Kindern wurde noch mehr gesenkt

Der Regelsatz für Kinder wird vom Eckregelsatz abgeleitet. Und auch hier wurde eine erhebliche Verschlechterung gegenüber dem alten Sozialhilferecht vorgenommen: Betrugen die Regelsätze vor Hartz IV für 7- bis 14-Jährige 65 % und für 14- bis 18-Jährige 90 % des Eckregelsatzes, so wurden mit Hartz IV für die 7- bis 14-Jährigen nur noch 60 %, für die 14- bis 18-Jährigen nur noch 80 % des Eckregelsatzes berechnet. In absoluten Zahlen dargestellt wird das noch deutlicher: Die 207 € (vor der Erhöhung auf 209 € zum 01.07.2007) für ein 7- bis 14-jähriges Kind (in denen 16 % einmalige Beihilfen schon enthalten sind), stehen einem Betrag von 230,40 € (192 € + 20 % einmalige Beihilfen) nach dem alten Sozialhilferecht gegenüber; es gab also eine Kürzung um 23,40 €. Bei den 14- bis 18-Jährigen wurde um 37,20 € gekürzt.

Ausmaß der Kinderarmut hier

Im Juni 2007 gab es in Wilhelmshaven 6.314 SGB II-Bedarfsgemeinschaften mit 11.126 Personen. 8.697 dieser Personen sind erwerbsfähig; die anderen erhalten Sozialgeld. 1.748 Erwerbsfähige sind unter 25 Jahre alt. 1.122 Personen sind allein erziehende Mütter oder Väter.
Oder eine andere Betrachtungsweise: Wir haben in Wilhelmshaven 1.398 Bedarfsgemeinschaften mit mehr als 2.320 Kindern unter 15 Jahren. Das bedeutet: Mehr als 23 % aller Wilhelmshavener Kinder leben von Sozialgeld.
23 %? Hat nicht die „WZ“ vor einiger Zeit einen höheren Prozentsatz genannt? Hat sich damals Frau Große Bockhorn versehen? (sh. dazu GW 200)

Versteckspiel mit den armen Kindern

Michael Bättig kommt zu einer anderen Antwort, und er formuliert sie als Frage: „Verstecken spielen mit armen Kindern?“ Und er zeigt ein paar interessante Tabellen. Da gibt es eine, die für Niedersachsen insgesamt sowie für einige ausgewählte Städte, darunter Wilhelmshaven, für Juli 2005 die absolute Zahl der Alg II- und Sozialgeld-BezieherInnen, ihren Prozentanteil an der Bevölkerung, die absolute Zahl der unter 15-jährigen Sozialgeld-BezieherInnen und ihren prozentualen Anteil an ihrer Altersgruppe ausweist, und dazu eine entsprechende für Dezember 2006. In einer dritten Tabelle sind die Angaben beider vorheriger Tabellen zusammengefasst auf einen Blick abzulesen. Und da eröffnet sich etwas ganz Seltsames!
Im Juli 2005 bezogen 11.275 Menschen aus Wilhelmshaven Leistungen nach dem SGB II, das waren 13,3 % der Bevölkerung. Von den unter 15-Jährigen bezogen 3.145 Sozialgeld, das waren 27,9 % aller Wilhelmshavener Kinder unter 15.
Bis Dezember 2006 war die Zahl der Alg II- und Sozialgeld-BezieherInnen auf 11.442 gestiegen, doch unter ihnen waren nur noch 2.417 Kinder bis 15; diese jungen Sozialgeld-BezieherInnen nahmen nur noch einen Anteil von 23 % ihrer Altersgruppe ein. Wo sind diese ganzen bedürftigen Kinder geblieben?
Dieses wundersame Verschwinden von 782 jungen Mitmenschen erklärt sich nicht durch ihr Heranwachsen. Es kommen ja immer Kinder nach. In den anderen Städten, für die Michael Bättig die Zahlen zusammengestellt hat, findet ein derartiger Schwund an jungen Menschen denn auch nicht statt. In Delmenhorst, Emden, Salzgitter, Oldenburg, Braunschweig, Osnabrück und Wolfsburg steigt ihr Anteil an ihrer Altersgruppe um 7 bis 22 %, ihre Zahl um 2 bis 38 % an. Lediglich in Wilhelmshaven sinkt ihr Anteil an allen Gleichaltrigen in diesem Zeitraum um 23,14 %, ihre Zahl um 4,9 %, und das, obwohl die Zahl der SGB II-„Fälle“ insgesamt um 1,5 % steigt.

Es sind tatsächlich mehr

Bättig lieferte keine Erklärung für das erstaunliche Verschwinden von Hunderten von Kindern aus offiziellen Statistiken. Wir haben darüber eine Spekulation, die wir an anderer Stelle in dieser Ausgabe nennen. Michael Bättig holt einfach die aus der Statistik gestrichenen Kinder wieder rein und stellt fest: Mehr als 3.300 Kinder unter 15 Jahren leben in SGB II-Bedarfsgemeinschaften, d.h.: Mehr als 30 % aller Wilhelmshavener Kinder bis 15 müssen vom Sozialgeld-Regelsatz leben. Und auf diese Zahl muss sich die Kommunalpolitik unserer Stadt auch für die nächsten Jahre einstellen.

Worte und Taten

„Für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft gibt es keine wichtigere Aufgabe als die zugewandte, verlässliche und kompetente Unterstützung aller Kinder, die in dieser Gesellschaft hineinwachsen“, sagt die Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen. Bättig schlägt vor, diesen Worten Taten folgen zu lassen. Auch auf kommunaler Ebene kann etwas getan werden. So könnten kommunale Initiativen für menschwürdige Regelsätze gestartet werden. Der Rat müsste in diesem Sinne Resolutionen verabschieden und an den Gesetzgeber richten. Das Job-Center könnte die Kosten für Schulmaterialien als Werbungskosten anerkennen. Dazu, entsprechende Anträge zu stellen, hat Ernst Taux bei der Juni-Versammlung der ALI aufgerufen (vgl. GW 228, „Amtsmissbrauch“). Die Stadt könnte einen Fonds für Schulmaterial für Hartz IV-Kinder einrichten – einige Kommunen in näherer und weiterer Umgebung von Wilhelmshaven haben das getan. Und das Mittagessen in ganztägigen Schulen und vorschulischen Einrichtungen sollte kostenlos sein. Das wären, so Bättig, sinnvolle Investitionen des Wilhelmshavener Haushaltes für die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft.

Kein Widerspruch

Irgendwie scheint man bei der ALI darauf gefasst gewesen zu sein, dass Jugendamtsleiter Carsten Feist als leitender kommunaler Angestellter das Ausmaß der Kinderarmut in Wilhelmshaven, das Michael Bättig berechnet hatte, anzweifeln würde. Man ließ diesen mit seinem Vortrag erst beginnen, als jener, der noch einen anderen Termin wahrnehmen musste, angekommen war. Doch da gab es keinen grundsätzlichen Widerspruch. Feist hatte z.T. andere Quellen genutzt und war auf 3.221 Kinder/Jugendliche im Alter von 0 bis 18 Jahren Kinder gekommen, die „Sozialhilfe“ erhalten.
Und noch in einem weiteren Punkt knüpfte Carsten Feist an Bättig an: Zwar gibt es noch keinen kommunalen Fonds für Schulmaterialien, doch z.B. an der Grundschule, an der er Elternvertreter ist, wurde ein entsprechender Fonds von Eltern eingerichtet.

Arme Kinder – Fälle für das Jugendamt?

Das Wilhelmshavener Jugendamt, das Feist seit etwas über einem Jahr leitet, verfügt über 75 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und gibt jährlich ca. 17 Mio. € für seine Aufgaben aus. 40 verschiedene Leistungen („Produkte“ heißen diese auf Neudeutsch) erbringt die Behörde, und für die, die immer noch glauben, das Jugendamt wäre die Stelle, die den Eltern die Kinder klaut, sei hier auf einige Zahlen hingewiesen:
Relativ große Ausgabenposten sind die Vollzeitpflege mit 1,7 Mio. €/Jahr und die Heimerziehung mit 3,4 Mio. €/Jahr, doch da diese Leistungen für den Einzelfall sehr kostspielig sind, steckt dahinter eine sehr viel kleinere Fallzahl als beim größten einzelnen Posten, den Tageseinrichtungen für Kinder, für die die Stadt 4,5 Mio. €/Jahr ausgibt.
Und doch ist die Zahl der Heimunterbringungen von 44 am 01.01.2004 auf 79 am 01.10.2005 beträchtlich gestiegen. Gründe für die Unterbringung eines Kindes in einem Heim sind problematisches Sozialverhalten des Kindes, Trennung oder Scheidung der Eltern, Lern- und Leistungsprobleme, Entwicklungsstörungen oder Vernachlässigung durch die Erziehungspersonen, und, so Feist: In 21 von 25 Fällen geht es um Kinder eines allein erziehenden Elternteils, und in 21 von 25 Fällen handelt es sich um Familien, die von sozialen Transferleistungen leben.
Hier schließt sich der Kreis: Kinderarmut ist schädlich für die Kinder und für die Gesellschaft. Und sie ist teuer! Vor diesem Hintergrund konnten die ZuhörerInnen am 10. Juli die Vision von Carsten Feist nachempfinden. Er wünscht sich, dass Prävention sich nicht mehr als Geldvernichtungsmaschine rechtfertigen muss, sondern dass sie als investiver Bestandteil des Haushaltes betrachtet wird.
Zu den einzelnen Präventionsprojekten des Wilhelmshavener Jugendamtes gibt es in einer der nächsten Ausgaben des Gegenwindes einen gesonderten Artikel.
________________________________________

Sorry, the comment form is closed at this time.

go Top