Job-Center
Jul 052006
 

Skandalöse Rechtsauffassung

Weiterhin handelt das Job-Center Wilhelmshaven willkürlich und missbräuchlich

(noa) Die ALI-Monatsversammlung am 13. Juni war so gut besucht wie schon lange keine mehr; zum ersten Mal seit Jahren drängten sich sogar Leute auf dem Flur um Stehplätze nahe der offenen Tür des Saales. Alfred Kroll, Fachanwalt für Sozialrecht aus Oldenburg, sprach über anderthalb Jahre Hartz IV.

Als Kroll im vergangenen April auf einer ALI-Versammlung gewesen war, hatte er feststellen müssen, dass das Job-Center der Arbeitsgemeinschaft aus Arbeits-Agentur und Stadt (ARGE) mit der Verwaltung der Langzeitarbeitslosigkeit völlig überfordert war, mit einer kümmerlichen Software und viel zu geringer Personalstärke falsche Bewilligungsbescheide ohne Ende produzierte. Von „Rechtsbruch, Missbrauch, Willkür“ hatte Kroll damals berichtet (vgl. Gegenwind 207). Jetzt, über ein Jahr später, sieht es immer noch nicht besser aus. Und wenn ALG II-Empfänger nach erfolglosem Widerspruch gegen einen falschen Bescheid klagen, sieht es auch hier genauso aus wie im Jahr 1 von Hartz IV: Die Klagenflut konnte von den völlig überlasteten Sozialgerichten nicht bewältigt werden; mittlerweile sind die Richterstellen verdoppelt bis verdreifacht worden, doch es herrscht immer noch ein völliges Chaos.

Sozialer Rechtsstaat?

„Wenn man sich überlegt, dass es hier um das Existenzminimum geht – kann dann noch von sozialem Rechtsstaat die Rede sein?“, fragt Kroll empört. Und mit Bezug auf die von Anfang an laufende und seit einiger Zeit verschärfte Hetzkampagne gegen die Hartz IV-Betroffenen („Missbrauch von Sozialleistungen“) und die unsägliche jüngste Äußerung von SPD-Chef Beck (man solle nicht alles beanspruchen, was man kriegen kann): „Es ist das gute Recht eines Jeden, Rechtsansprüche geltend zu machen! Becks Äußerung ist ein Armutszeugnis für den sozialen Rechtsstaat.“
Der Zweck der Arbeitsmarkt„reform“ Hartz IV war es, Geld zu sparen. Und das ist nicht gelungen. Allerorts versuchen die ARGEn bzw. – wo keine ARGE gegründet wurde – die Kommunen, sich dafür entschieden haben, die Langzeitarbeitslosigkeit allein zu verwalten („optierende Kommunen“), die Ausgaben für Hartz IV zu senken. Das ist nicht möglich beim Regelsatz, denn der ist eindeutig festgelegt. „Sparen“ kann die ARGE nur bei den Kosten der Unterkunft und der Heizung.
Das Job-Center Wilhelmshaven macht sich hier die etwas unklare Bestimmung im Gesetz zunutze. § 22 SGB II legt fest, dass neben dem Regelsatz die Kosten einer angemessenen Unterkunft in angemessener Höhe zu erstatten sind. Höchstens sechs Monate lang sollen auch „unangemessene“ Unterkunftskosten von der ARGE getragen werden. Aus diesen sechs Monaten hat man in Wilhelmshaven in vielen Fällen drei gemacht. Die Anspruchsberechtigten wurden aufgefordert, ihre Mietkosten durch Verhandlungen mit dem Vermieter, durch Untervermietung oder durch Umzug zu senken, und schon nach drei Monaten wurde nicht mehr die volle Miete, sondern nur noch die Summe gezahlt, die sich das Job-Center als „angemessen“ ausgedacht hatte. Ein Richter am Sozialgericht Oldenburg hat da mitgemacht, so dass die entsprechenden Fälle halt beim Landessozialgericht verhandelt und – zugunsten der KlägerInnen – entschieden wurden.

Schablonenhaftes Verfahren

„Es wäre interessant zu analysieren, wie viel Geld gespart worden wäre, wenn das Job-Center es gleich korrekt gemacht hätte“, stellte Kroll in den Raum. Und was korrekt ist, ist gesetzlich definiert: Das SGB X enthält Bestimmungen darüber, wie ein Verwaltungsverfahren (und die Bewilligung und Bescheidung eines Alg II-Antrages ist ein Verwaltungsverfahren) zu laufen hat: Der Einzelfall muss geprüft werden. Die Besonderheiten des Einzelfalles interessieren das Job-Center Wilhelmshaven jedoch nicht. Ob jemand aufgrund einer Behinderung ebenerdig wohnen muss oder ob die Nähe zur Schule dafür spricht, in der etwas zu teuren Wohnung zu bleiben – egal, „das Job-Center entscheidet schablonenhaft und damit rechtswidrig und amtsmissbräuchlich.“ Kroll wusste zu berichten, dass das auch schon einige Richter „auf die Palme gebracht“ hat.
„Sind die Sachbearbeiter im Job-Center unwissend – oder sind sie speziell darauf geschult, sich so zu verhalten?“, fragte ein Versammlungsteilnehmer dazwischen. Dazu mochte Kroll sich nicht äußern. Es gab zu bedenken, dass es mangels höchstrichterlicher Rechtsprechung (vom Bundessozialgericht) noch keine Rechtssicherheit für die Behörden gibt. Werner Ahrens, Sozialberater der ALI, war vor einigen Monaten im Gespräch mit dem Gegenwind nicht so zurückhaltend in dieser Frage. Er sagte damals, dass nach seiner Einschätzung das hiesige Job-Center so lange rücksichtslos rechtswidrige Bescheide herausgeben wird, bis es eine höchstrichterliche Entscheidung gibt. Und Kroll am 13. Juni dazu: „Im Moment sparen sie ja Geld damit.“

Alles dokumentieren!

Alfred Kroll berichtete der Versammlung über das Verfahren Anfang Mai, über das wir in der Ausgabe 218 im Artikel „Trickreich“ geschrieben haben. „Die bislang übliche Rechtsprechung, derzufolge bei der Bewilligung der Kosten der Unterkunft die rechte Spalte der Wohngeldtabelle anzuwenden ist, ist ins Wanken gekommen“, so wertet er die Überraschung, die ein Oldenburger Richter ihm und seinem Mandanten bereitet hat. Wenn die örtlichen Gegebenheiten eine geringere Miete rechtfertigen, so hatte dieser Richter ausgeführt, könne das Job-Center auch weniger als die in der Wohngeldtabelle vorgesehene Miete bewilligen. Die Recherchen, die die ALI Anfang Mai angestellt hatte (sh. „Das wird eng!“ in Gegenwind 218), haben ihm und seinem Mandanten erst mal nichts genützt, weil die Vertreterin des Job-Centers eisern behauptet hatte, dass es in Wilhelmshaven billigeren Wohnraum gäbe. Auf Krolls Einwand, dass es sich dabei zu einem großen Teil um Wohnungen handelt, für die Kautionen oder Genossenschaftseinlagen zu entrichten sind, für die das Job-Center dann nicht aufkommen würde, sagte der Richter, das sei dann zu klären, wenn es soweit sei.
Kroll forderte die ALI-Mitglieder deshalb dringend auf, mitzuhelfen und der ALI über Wohnungen, die das Job-Center als „Hartz IV-tauglich“ bezeichnet, zu berichten. Einen sachdienlichen Beitrag hierzu konnte ein Versammlungsteilnehmer gleich leisten: Er hatte sich um eine Wohnung bemüht, die auf der Liste des Job-Centers steht, und erfahren, dass die dort angegebenen Nebenkosten für eine Person berechnet seien. Für die zweite Person erhöhten sich die Nebenkosten, so dass die Wohnung insgesamt zu teuer (nach den Vorgaben des Job-Centers) wurde.
Ebenfalls genau dokumentieren sollten Alg II-Empfänger ihre Suche nach billigen Wohnungen. Es kam reichlich häufig vor, dass das Job-Center Leuten, die es zum Wohnungswechsel aufgefordert hatte, schon nach drei Monaten die Kosten der Unterkunft auf das von ihm als „angemessen“ definierte Maß gesenkt hatte, weil diese sich angeblich nicht fleißig genug um eine billigere Wohnung bemüht hätten.

Amtsträger zur Rechenschaft ziehen

Einige VersammlungsteilnehmerInnen wollten wissen, was man tun kann, wenn das Job-Center sich rechtswidrig verhält. Nun, bei grober Fahrlässigkeit kann man ein Amtshaftungsverfahren anstrengen. Wenn z.B. der asthmakranke Herr L. (sh. hierzu Gegenwind 218, „Job-Center untätig“), dem das Job-Center einfach den über dem vom ihm willkürlich festgelegten Höchstsatz liegenden Mietanteil seit einem Dreivierteljahr nicht mehr erstattet, tatsächlich umzöge und dadurch schweren gesundheitlichen Schaden erlitte, könnte er das Job-Center deswegen zur Rechenschaft ziehen. Da er sich diesen mit Sicherheit eintretenden Gesundheitsschaden wohl nicht antun will, wird er wohl in seiner Wohnung bleiben und weiterhin den ihm fehlenden Teil der Miete vorfinanzieren. 4 % Zinsen kann man in einem solchen Fall am Ende (sprich: wenn das Gerichtsverfahren abgeschlossen ist und man sein Recht bekommen hat) vom Job-Center verlangen. Es ist nur zu hoffen, dass alle Betroffenen jemanden finden, der ihnen zu so günstigen Zinsen das Geld leiht – die Banken wollen mehr.

Létat c’est moi

Alfred Kroll ist nur entsetzt darüber, wie das Job-Center mit seinen Kunden umgeht. „Meinen Sie, dass man so das Gesetz umgehen kann?“, hat er neulich im Gerichtssaal die Mitarbeiterin des Rechtsamtes der Stadt Wilhelmshaven gefragt, die ihm nur mit einem Schulterzucken antwortete. Der Kollege aus Norden, der gelegentlich die ALI-Versammlungen besucht, hatte eine ausführlichere Antwort parat. Er berichtete, dass neulich der Geschäftsführer der ARGE Aurich/Norden im Gespräch mit dem ehemaligen Leiter des Sozialamtes gesagt habe, er sei das Gesetz und Urteile hätten ihn noch nie interessiert. Solche königlich-arroganten Sprüche sind bislang von den Verantwortlichen in Wilhelmshaven noch nicht überliefert, doch ihr Verhalten deutet in dieselbe Richtung.

„Das ist rechtswidrig!“

Eine Versammlungsteilnehmerin berichtete von einem Fall, in dem das Job-Center einer Familie das Kindergeld, das beantragt, aber noch nicht ausgezahlt ist, als Einkommen angerechnet und das Alg II entsprechend gekürzt hat. „Das ist rechtswidrig“, erklärte Kroll. Das Job-Center kann sich mit der Kindergeldstelle – die ja bekanntlich auch personell denkbar schlecht ausgestattet und deshalb total überlastet ist und die Familien deshalb lange, lange auf das Kindergeld warten lässt – in Verbindung setzen und die vorgestreckten Teile des Kindergeldes einfordern, doch aufgrund von zu erwartendem, momentan noch rein fiktivem Einkommen Menschen unter das Existenzminimum drücken, das darf es nicht. Und was kann die betreffende Familie dagegen nun tun? – „Widerspruch dagegen einlegen und parallel dazu ein Eilverfahren anstrengen“, war Krolls Antwort.
In einem Eilverfahren beantragt man eine einstweilige Anordnung. Obsiegt man hier, muss das Job-Center zahlen. Hier gibt es kein Urteil, sondern einen Beschluss, und darin steht meistens, dass der Kläger, sollte das Gericht im Hauptverfahren anders entscheiden, die unrechtmäßig erhaltene Summe zurückzahlen muss – doch das passiert kaum jemals.
Die Frau, der nach einem 6-tägigen Krankenhausaufenthalt 60 Euro vom Alg II abgezogen wurden, bekam ebenfalls den Rat, Widerspruch einzulegen – und Kroll konnte über die Dreistigkeit des Job-Centers nur den Kopf schütteln. Die Frau konnte während dieser sechs Tage diese Summe nicht eingespart haben, muss man doch in den ersten 28 Tagen eines Krankenhausaufenthalts einen Beitrag von 10 Euro pro Tag zahlen.

Zug abgefahren?

Ein Versammlungsteilnehmer, der nur ganz selten mal eine ALI-Versammlung besucht, wollte wissen, was man überhaupt tun muss, wenn man einen Bescheid vom Job-Center bekommt, mit dem man nicht einverstanden ist. Da anzunehmen ist, dass auch viele unserer LeserInnen das nicht oder nicht mehr wissen, geben wir Alfred Krolls Antwort wieder: Innerhalb eines Monats nach dem Bescheid muss man Widerspruch einlegen. Es ist ganz sinnvoll, sich hierbei von der ALI helfen zu lassen. Ist man schon etwas spät dran, kann man ohne nähere Ausführungen „zur Fristwahrung“ widersprechen und die Begründung des Widerspruchs nachreichen. Sinnvoll ist es, dem Job-Center eine Frist zu setzen und nach Verstreichen dieser Frist beim Sozialgericht einen Antrag auf einstweilige Anordnung zu stellen. Nach längstens drei Monaten muss das Job-Center einen Widerspruchsbescheid geben; überschreitet es diese Frist, kann eine Untätigkeitsklage eingereicht werden.
Verfahren vor dem Sozialgericht sind kostenfrei. Lediglich der „Beratungsschein“, den man sich beim Amtsgericht ausstellen lassen muss und den man braucht, wenn man einen Anwalt konsultiert – was man tun sollte – kostet 10 Euro.
Wenn man einen Widerspruch nicht rechtzeitig binnen eines Monats eingelegt hat – etwa weil man zunächst geglaubt hat, das Job-Center könne doch nicht lügen! –, ist der Zug trotzdem nicht abgefahren. Jederzeit kann man nach § 44 SGB X eine Überprüfung eines Bescheides beantragen. Hat man z.B. als allein lebende Person nur die 252 Euro Kosten der Unterkunft bewilligt bekommen und sich monatelang das fehlende Geld vom Munde abgespart, dann sollte man eine solche Überprüfung beantragen.
Man muss allerdings darauf gefasst sein, dass das Job-Center darauf etwas seltsam reagiert: Es weist den Antrag nämlich „wegen Unzulässigkeit“ mit einem Widerspruchsbescheid zurück. Aber dagegen kann man ja bekanntlich klagen.

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