Gegenwind-Gespräch: Schulschließungen
Mrz 052003
 

Kleinschule oder „Lernbunker“?

Betroffene Eltern machen mobil gegen die Schließung der ältesten Grundschule Wilhelmshavens

(ub) Geht es nach dem von Stadtrat Dr. Jens Graul und Klaus Grimminger, Leiter des Fachbereichs Bildung, Kultur und Sport, vorgelegten Schulentwicklungsplan, sind Grundschulschließungen wohl unvermeidlich. Die Schülerzahlen sinken, und das Geld für die Renovierung der maroden Schulgebäude ist nicht vorhanden. Im Westen der Stadt soll die Schule Neuende schließen. Einziger Grund für die Schließung dieser Schule ist der bauliche Zustand. Betroffene Eltern sind empört. Denn anders als im Süden der Stadt werden für die Stadtviertel Europaring, Wiesenhof und Aldenburg konstante Schülerzahlen prognostiziert.

Und wieder gibt es auch harsche Kritik an der Informationspolitik von Rat und Verwaltung.
Schulschließungen entwickeln sich in Wilhelmshaven zu einem äußerst unangenehmen Thema für alle Beteiligten. Kaum haben sich die Wellen der Empörung über die Schließung der Helene-Lange-Schule im Süden der Stadt und der Grundschulschließung im Stadtnorden in Coldewei geglättet, droht neues Ungemach. Ein lange überfälliger Schulentwicklungsplan liegt zumindest für den Grundschulbereich endlich vor. Auf vielen Seiten penibel statistisch aufgelistet, wird aufgezeigt, was längst bekannt ist: Das drastische Sinken der Einwohnerzahlen bewirkt auch ein entsprechendes Sinken der Schülerzahlen. Dies umso mehr, weil besonders junge Menschen die Stadt verlassen.
Über viele Jahre ist bei anstehenden Reparaturen an den Schulen gespart worden. Der Renovierungsbedarf fast aller Schulen ist enorm hoch. Wer beispielsweise sich anlässlich seines 30jährigen Klassentreffens an den Ort der eigenen Jugend und Schulzeit zurückbegibt, hat wenig Mühe, Erinnerungen hervorzugraben. Alles ist noch wie früher – es hat den Anschein, als ließen sich noch die Spuren der Einkerbungen mit dem ersten Taschenmesser an der Klassentür finden. Sinkende Schülerzahlen, baufällige Schulen, leere Kassen der Kommune – Schulschließungen bieten sich geradezu an. Die älteste Grundschule im Stadtteil Neuende ist unstrittig auch am renovierungsbedürftigsten. Dass gerade diese Schule nur deshalb dem Rotstift zum Opfer fallen soll, beklagen die betroffenen Eltern vehement. Im Einzugsgebiet der Schule Neuende sind die Schülerzahlen konstant, durch zukünftige Neubaugebiete ist die Auslastung gesichert. Zudem hat diese scheinbar hoffnungslos veraltete Schule Vorzeigecharakter, legt man die Thesen der Pisa-Studie als Bewertungsmaßstab an. Der Gegenwind hat mit betroffenen Eltern und Vertretern des Schulelternrates der Schule Neuende ein Gespräch geführt. Weil der Druck auf diese betroffenen Eltern wächst und einige mittlerweile auch berufliche Nachteile befürchten, haben wir uns darauf verständigt, entgegen unserer sonstigen Praxis auf Namensnennung der Gesprächsteilnehmer zu verzichten.

Gegenwind: Die Einwohnerzahl der Stadt schrumpft, die Zahl der Schüler geht zurück. Ist es da nicht ökonomisch sinnvoll, auch die Schulstandorte zu reduzieren?
Elternvertreter: Hier muss differenziert werden. Die Zahlen des Schulentwicklungsplanes prognostizieren der Schule Neuende in den nächsten Jahren eine ausreichende Nachfrage. Die erwarteten Anmeldezahlen liegen in 2003 bei 35, in 2004 bei 32, 2005 bei 21 und 2005 bei 32 Einschulungen. Durch neue Baugebiete im Einzugsgebiet kann man eher noch von höheren Zahlen ausgehen.

Gegenwind: Mehrere Grundschulstandorte sind in der Schließungsdiskussion im Gespräch. Die Nachfrage im Westen der Stadt ist dabei vergleichsweise hoch. Warum soll also ausgerechnet in einem bezogen auf die Einwohnerzahl wachsenden Stadtgebiet eine Grundschule geschlossen werden?
Die Schule Neuende muss dran glauben, weil in diese älteste Grundschule Wilhelmshavens in den letzten Jahren nicht investiert wurde. Seit 25 Jahren wurde nur das Notwendigste gemacht. Unbedingt neu gemacht werden müssten die Fenster. Es gibt noch keine Doppelverglasung, und weil sich einige Fenster gar nicht mehr öffnen lassen, kann nicht vernünftig gelüftet werden. Das Dach ist undicht und vieles mehr. Der Renovierungsbedarf ist aber seit Jahren bekannt. Jetzt plötzlich wird alles als unaufschiebbar deklariert. Der Eindruck ist da, dass diese genaue Kostenanalyse lediglich der Schließung dienen soll.

Wie hoch wären die Renovierungskosten?
Bei einer Komplettsanierung sind Kosten von ca. 740.000 Euro errechnet worden. Es muss allerdings kritisch hinterfragt werden, ob denn jetzt plötzlich, nachdem man diese Schule quasi über Jahrzehnte dem Verfall preisgegeben hat, alle Reparaturen unmittelbar geschehen müssen.

Eine Schließung der Schule Neuende würde bedeuten, dass vermutlich jeweils ein Jahrgang an die Grundschulen Peterstraße und Wiesenhof delegiert werden würde. Wie ist diese Entwicklung einzuschätzen?
Die Schule Wiesenhof, die unzweifelhaft einen guten Ruf hat, würde sich zu einem Grundschulzentrum entwickeln. Die Schule wird unübersichtlicher und anonymer. Wir schätzen gerade an der kleinen Schule Neuende den familiären Charakter. Die Lehrer kennen alle Schüler. Die Eltern nehmen regen Anteil am Schulgeschehen. Die Schulhofgestaltung wurde beispielsweise auf Initiative der Eltern mit Sponsoren verbessert. An den Elternabenden nehmen mindestens 80 % der Eltern teil. Gewalt und Kriminalität findet auf dem Schulhof und im unmittelbaren Umfeld der Schule so gut wie nicht statt.

Eine kleine Schule mit knapp 140 Schülern, zudem hochgradig renovierungsbedürftig, kann sich das eine hochverschuldete Stadt leisten?
Es darf nicht sein, dass der städtische Haushalt auf Kosten der Zukunft unserer Kinder saniert wird. Wir zahlen jetzt für die Expo-Sünden, die Misswirtschaft der WPG und andere kommunale Fehlleistungen.
Vor der Wahl haben alle den Bildungsanspruch in den Vordergrund gestellt. In aller Munde ist immer noch die Pisa-Studie. In dieser Studie werden aber genau diese kleinen Schulen empfohlen. Also ein- bis vierzügige Schulen mit einem Durchschnitt von 20,5 Schülern pro Klasse. D. h., dass beispielsweise bei einer Zusammenlegung von Schulen die Schule Wiesenhof mit derzeit 4 Klassen pro Jahrgang und durchschnittlich 28 Schülern gemessen an den Kriterien der Pisa-Studie deutlich zu groß wird. Die Schule Wiesenhof befindet sich am oberen Level. Auch die Zahl der Schüler pro Klasse ist im oberen Bereich. Ab 32 Schülern könnte man die Klasse auch splitten.

Kleine Schulen trotz leerer Haushaltskassen. Mit welchen Argumenten?
Laut Pisa-Studie macht es Sinn, die Entwicklung der Schulen umzukehren. Wieder wegzugehen von Zentren hin zu kleinen Schuleinheiten. Die Anonymität soll abgebaut werden. Bei großen Schuleinheiten entsteht auch das Problem der Schulhofkriminalität. Die Bedürfnisse des Individuums sollen Berücksichtigung finden. Der Einzelne, ob mit guter oder schlechter Schulleistung, soll wieder die Möglichkeit einer besseren, individuelleren Förderung bekommen. Der Weg zur Schule soll für die Kinder maximal 2 Kilometer betragen. Wir bezweifeln, dass diese Entfernungen im Westen der Stadt bei nur noch zwei Grundschulstandorten einzuhalten sind.

Als die Schule Coldewei geschlossen wurde, haben die Entscheidungsträger im nachhinein zugegeben, dass zumindest der Schließungsprozess, d. h. unter anderem die Informationspolitik schlecht gelaufen ist. Alle haben seinerzeit Besserung gelobt. Ist der Entscheidungsprozess jetzt transparenter?
Ganz im Gegenteil! In der Wilhelmshavener Zeitung vom 15.01.03 war noch zu lesen: „Der Schulausschuss, durch die Helene-Lange-Schule und die Grundschule Coldewei aus Schaden klüger geworden, wollte…dafür sorgen, dass die Verwaltung frühzeitig über Planungen Auskunft gibt. … Aufhebungen von Schulstandorten stehen nicht an.“ Nur wenig später war am 07.02.03, ebenfalls in der WZ, zu lesen, dass hohe Schulrenovierungskosten und rückläufige Schülerzahlen die Verwaltung zu der Überlegung führen, „ob in der Südstadt und im Stadtwesten auf je einen Schulstandort verzichtet werden kann.“ Beachtenswert ist die Terminierung der Veröffentlichungen. Vor der Wahl wurde angeblich kein Handlungsbedarf gesehen. Unmittelbar nach der Landtagswahl und direkt vor den Haushaltsberatungen erfolgte die Ankündigung, dass Schulschließungen drohen. Seitdem brodelt die Gerüchteküche. Es wird vermutet, dass die jetzt geführte Diskussion nicht mehr ergebnisoffen und die Schließung der Schule Neuende längst beschlossene Sache ist.

Gibt es konkrete Hinweise dafür?
Wie gesagt, es sind Gerüchte im Umlauf. So sollen die Mütterberatung der Stadt, die Musikschule und der Kindergarten der AWO, alles Einrichtungen, die ihre Angebote in den Räumen der Wiesenhofschule stattfinden lassen, sich bereits nach neuen Standorten umsehen.
Die Möglichkeit, diese Räume zukünftig für schulinterne Zwecke zu nutzen, wird im Schulentwicklungsplan ausdrücklich genannt.

Die Eltern der betroffenen Kinder sind gegen die Schließung ihrer Schule und wehren sich. Wie soll es jetzt weiter gehen?
Wir sammeln weiter Informationen und wollen unsererseits informieren. Eine Unterschriftensammlung für den Erhalt der Schule Neuende wurde gestartet. Wir müssen unsere Argumente weiter vermitteln. Auch den Eltern der Wiesenhofschüler muss klar werden, dass sich die Situation an ihrer Schule verschlechtert. Wir müssen uns gemeinsam dagegen wehren, dass durch Zusammenlegung von Kleinschulen Lernbunker entstehen.

Vielen Dank für das Gespräch.

In den Geschichtsbüchern wird Neuende in Zusammenhang mit Schule erstmalig 1535 benannt. In der Laudatio zum 125-jährigen Bestehen der Schule im September 2000 wird erwähnt, dass der damalige Schuldiener Vicarius Gerhardus Tiarks seinerzeit „mit der Tochter eines angesehenen Gemeindemitglieds ausrückt.“ Im Jahr 1537 wird die Geschichte der Schule Neuendes erneut von einem Schuldiener bestimmt. Dessen Eingabe an den zuständigen Oldenburger Grafen weist auf die schlechten Schulverhältnisse hin und bewirkt den Bau einer ersten eigenen Schule in diesem Gebiet. Dies Gebäude ist noch erhalten und steht östlich der Neuender Kirche am Kirchhof. Das uns heute bekannte Schulgebäude entsteht um 1860. Im Jahr 1875 zählen die Chronisten 422 Schüler und 6 Lehrer. Der Anstieg der Schülerzahlen in den darauffolgenden Jahren ist rasant. Im Jahr 1880 entfernt man sich von den Anforderungen der damals ja noch nicht erstellten Pisa-Studie recht deutlich. Ganze neun Lehrer müssen 890 Kinder unterrichten. 1904 wird wieder baulich kräftig investiert. Bis auf vier Grundmauern kommt alles neu. Viele große Fenster geben der Schule den Namen Glaspalast. 1914 müssen die Männer wg. Vaterlandsverteidigung an die Front. Jetzt ist plötzlich auch das weibliche Geschlecht zwecks Unterrichtung der Kinder gefragt. Einen Weltkrieg später entsteht nördlich der Schule der heute von Fledermäusen bewohnte Luftschutzbunker. Die Gestapo beschlagnahmt 1944 das Schulgebäude. Die Nachkriegszeit ist auch an der Schule Neuende geprägt von Not und Einschränkungen. Im März 47 gibt es Kälteferien, bis die Temperaturen auf 4 Grad plus steigen und der Unterricht wieder aufgenommen wird. Im Schuljahr 1969/70 wird der Autor dieses Artikels mit der Klasse 9S von der Wasserturmschule der Grundschule Neuende zugewiesen. Unter Leitung des Lehrers Herr Weiland wird mit den Schülern der 9S erstmals ein Schülerlotsendienst eingerichtet. Die Schule platzt immer noch aus allen Nähten. Erst mit der Einweihung der Wiesenhofschule sinkt die Schülerzahl drastisch von 630 auf 285 Kinder. Sinkende Schülerzahlen und die damals auch schon schlechte Finanzlage der Stadt Wilhelmshaven führen 1987 zu Diskussionen bezüglich einer Auflösung dieser Schule. In der Schulchronik ist dazu vermerkt: „Dank intensiven Einsatzes des Schulelternrates kann erreicht werden, dass die Grundschule Neuende nicht geschlossen wird. Alle Kinder können weiterhin in ihre kleine überschaubare Grundschule gehen…“
Kommentar:

Ein Gespenst geht um
Die Welle der Schulschließungen hält an – nachdem die Schule Coldewei geschlossen wurde, stehen jetzt weitere Objekte auf der Abschussliste der Verwaltung. Begründet werden die Schulschließungen mit der zu erwartenden geringen SchülerInnenzahl. Steckt da vielleicht etwas ganz anderes hinter?
Auf diesen Gedanken kamen wir, als uns zu Ohren kam, dass die Neuender Schule dicht gemacht und anschließend abgerissen werden soll, um das Wohngebiet zwischen „Heilig Land“ (Neuender Reihe) und der Kirchreihe/Dorfmark zu schließen. Also Schule weg – Reihenhäuser hin. Wenig später mussten wir erfahren, dass auch die bereits geschlossene Schule in Coldewei abgerissen werden soll, um der Wohnbebauung in diesem Stadtteil Platz zu bieten.
Zwei Schulen werden abgerissen, damit dort Wohnungen entstehen können? Einen schalen Beigeschmack bekommt dieses Vorgehen, wenn man sich die Begründungen für die Schulschließungen ansieht: Da werden Schließungen schön geredet und Bevölkerungsentwicklungen im Sinne der Schließung interpretiert.
Aber es ist ja nicht nur bei den Schulen so – die Stadt verkauft Gebäude und Liegenschaften in der Südstadt und pflanzt die dort tätigen Verwaltungen um. Zum Beispiel ins so genannte Krupp-Haus. Dass die Nutzbarmachung dieses Gebäudes an der Mitscherlichstraße weitaus teurer war als der Ertrag aus den Verkäufen der Liegenschaften in der Südstadt – wen wundert’s? Dass das ehemalige Bauamt (Weserstraße 45) jetzt schöner aussieht als vorher, sei dem Investor zu danken – bei einem solchem Schnäppchen kann man ja auch noch den einen oder anderen Euro investieren.
Zurück zu den Schulen. Die Helene-Lange-Schule wurde vor einigen Jahren geschlossen. Auch mit der Begründung, dass die Instandsetzung zu teuer sei. Dummerweise fand sich für dieses Gebäude bisher kein Käufer. Und so kommt man dann auf die Idee, vielleicht mal eine andere Schule zu schließen – vielleicht findet sich dafür ja ein Käufer. Diskutiert wird momentan darüber, die Helene-Lange-Schule wieder aufzumachen, aber wohl nur, wenn sich eine andere Schule zum Verkauf (=Abriss) eignet.
Es wird ja nicht einmal ein Gedanke daran verschwendet, ob die leer stehenden Schulgebäude sich vielleicht für die brach liegende Jugend- oder Stadtteilarbeit nutzen lassen.
Was hier momentan in der Stadt abläuft, ist unglaublich. Es geht nicht um eine vernünftige Schulversorgung, es geht nicht um sichere Schulwege – es geht nur darum, welches Objekt kann ich mit größtmöglichem Gewinn an den Investor bringen.
Da passt es nur zu gut, dass gerade jetzt das eng mit den Bausparkassen zusammenarbeitende Eduard-Pestel-Institut aus Hannover sich für die Ausweisung weiterer Baugebiete in Wilhelmshaven ausspricht. Das würde zwar auch bedeuten, dass die Innenstadt weiter verödet, weil sich der Wohnungsleerstand ausweitet. Aber diese Häuser kann man dann ja, so das Pestel-Institut, einfach abreißen.
Ist der Gedanke, dass nicht die Stadtverwaltung, sondern gänzlich anders orientierte Leute hier die Vorlagen geben, abwegig?

Hannes Klöpper

Sorry, the comment form is closed at this time.

go Top