Gegenwind-Gespräch: Gabriele Iwersen
Mai 302001
 

Schreckliche Prognosen

Gegenwind-Gespräch mit Gabriele Iwersen

(noa) Wilhelmshavens Fläche wächst, während seine Bevölkerung schrumpft. Die Kommunalpolitik scheint gezwungen zu sein, diesem Wahnsinn Vorschub zu leisten. Wir wollten von unserer Bundestagsabgeordneten Gabriele Iwersen (SPD) wissen, ob es höheren Orts Ansätze gibt, die Fehlentwicklung umzukehren. Herausgekommen ist viel Wissenswertes, das wir unseren LeserInnen nicht vorenthalten wollen, wenn es auch nicht optimistisch stimmt.

Renaissance des Wohnens in der Stadt?

Gegenwind: Wir haben Ihre Bundestagsrede über den „wahnsinnigen Flächenverbrauch“ im GW 167 zusammengefasst, weil wir Ihnen da zustimmen und die Fehlentwicklung, die Sie da angeprangert haben, auch sehr kritisch beobachten. Während Wilhelmshavens Bevölkerung schrumpft, wächst seine Fläche…
Gabriele Iwersen: …und wir wundern uns über das Schrumpfen der Bevölkerung, und es wird so dargestellt, als ob es daran liegt, dass keine Kinder geboren werden. Tatsächlich muss man aber auch die Wanderungsbewegungen in der engeren Region sehen: Jüngere Familien haben immer noch den unwiderstehlichen Wunsch nach dem eigenen Haus und suchen billiges Bauland. So entstehen die Vororte mit jungen Familien. Dagegen wünsche ich mir eine Renaissance des Wohnens in der Stadt. Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, meine Gedanken dazu zu sagen.
Das Einfamilienhaus im Grünen ist nur für kurze Zeit die ideale Wohnform für eine Familie – nämlich nur, solange die Kinder klein sind und mit der Schaukel auf dem Rasen etwas anfangen können. Ab dem Schulalter ist das vorbei.

Dann muss man die Kinder dauernd irgendwohin chauffieren.
Kinder werden schneller selbständig, wenn man sie sich selbst überlassen kann. Die Leute, die im Vorort bauen, machen ihre Kinder abhängig von Vaters Auto und Mutters Fahrkünsten.
Wenn ich vor der Entscheidung stünde, wo ich mit kleinen Kindern wohnen will, wäre mir an erster Stelle ein konfliktfreies Wohnen wichtig – Familien mit kleinen Kindern sollten nicht unmittelbar neben älteren ruhebedürftigen Leuten wohnen. Und an zweiter Stelle würde ich mir die nähere Umgebung ansehen. Da geht es um die Frage, ob man die Kinder die Nachbarschaft allein erkunden lassen kann. Erst an dritter Stelle wäre mir das Innere der Wohnung wichtig.
Danach würde ich mir die soziale Infrastruktur ansehen, also: Ist die Krabbelgruppe, der Kindergarten, die Grundschule in der Nähe? Wenn die Kinder größer werden, soll auch die weiterführende Schule mit dem Fahrrad oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar sein, und noch etwas später wird es wichtig, ob die Kinder die Disco allein erreichen können.
Die nächste Überlegung wäre für mich dann die Versorgung mit den Dingen des täglichen Bedarfs; es müssen Geschäfte in der Nähe sein. Schließlich würde ich bei der Wahl meiner Wohnung auch darauf achten, ob der Weg zur Arbeit vertretbar ist. Die jungen Familien, die sich ein Eigenheim im Grünen sehnlichst wünschen, nehmen trotz steigender Benzinpreise einen täglichen Weg von 20 oder 30 km in Kauf, nur weil das Grundstück draußen billiger ist. Auf Dauer kommt das aber dann teurer.

Das klingt jetzt so, als wollten Sie die städtebauliche Fehlentwicklung hauptsächlich den jungen Familien anlasten.
Es geht mir nicht um die Suche nach den Schuldigen, sondern darum, das Wohnen in der Stadt schmackhaft zu machen. Dazu gehört auch, die Anbieter von Mietwohnungen dazu zu bringen, die Nachbarschaften neu zu organisieren, damit ein konfliktfreies Wohnen möglich ist.

Schön wär’s – ist aber nicht in Sicht

Ich möchte noch einmal auf Ihre Bundestagsrede zurückkommen. In welchem Zusammenhang haben Sie die gehalten? Ging es darum, diese Fehlentwicklung umzukehren?
Nein. Anlass der Debatte war der Raumordnungsbericht 2000. Das findet jährlich statt. Da wird der Ist-Zustand dargestellt und die sich daraus ergebenden Prognosen werden entwickelt. Das wird gemacht, um eine Grundlage für den Bundesverkehrswegeplan zu haben. Der wird ja unter Berücksichtigung der Wanderungsbewegungen (und ökologischer Kriterien) vorgenommen.

Das geht ja eigentlich in die ganz falsche Richtung. Man schaut also: Wie hat der Städtebau sich entwickelt, und nun bauen wir die Straßen dazu.
Ja. Es ging bei der Debatte nicht darum, wie man die Fehlentwicklung verhindert…

… sondern, wie man darauf reagiert.
Ja. Es ist schrecklich. Die Prognosen reichen bis 2015, und sie sprechen von einem anhaltenden Trend zum Einfamilienhausbau. Die nachwachsende Generation wird sich vermutlich genau wie die vorige verhalten – wenn es ihr ermöglicht wird.
Es gibt ja die Planungshoheit der Kommunen. Wenn man die Kommunalpolitiker dazu bringen könnte, das einzusehen… Aber jede Kommune freut sich, wenn sie der Nachbargemeinde einen Einwohner – einen Steuerzahler! – abnehmen kann. Und dann gibt es ja auch die Größenordnungen: Wenn eine bestimmte Einwohnerzahl überschritten ist, wird die Verwaltung hochgestuft in den Gehaltsansprüchen, und die Gemeinde wird im Finanzausgleich anders bewertet. Auf den unterschiedlichsten Gebieten gibt es Mechanismen, die alle auf das Wachstum ausgerichtet sind.

Und die damit den wahnsinnigen Flächenverbrauch anheizen.
Auch die Konzentration des Einzelhandels heizt ihn an. Da gibt es z.B. einen Laden in einem Einzugsgebiet mit 700 Bewohnern, und der Besitzer sagt, um über die Runden zu kommen, braucht er 1000. Dann strengt die Gemeinde sich an, auf 1000 Bewohner zu kommen, nur um den Edeka-Laden zu behalten. Also wird noch ein Baugebiet mit 120 Bauplätzen ausgewiesen.

Ist das Theorie, oder passiert so etwas tatsächlich?
Das passiert tatsächlich. Solche Überlegungen spielen eine Rolle, wenn die Gemeinde ihren Antrag bei der Bezirksregierung, die darüber die Aufsicht hat, begründet. – Und kaum hat das Dorf sein Ziel erreicht, erkennt man schon die nächste Konzentrationsstufe im Einzelhandel…

… und der Edeka-Laden macht trotzdem dicht. Das ist ja verrückt. Aber die Kommunen müssen ja offensichtlich mitmachen. Haben sie denn anders eine Chance?
Es gibt ja die Landesentwicklungspläne. Dazu sind die Bundesländer verpflichtet. Die machen ein raumordnerisches Grobraster für das ganze Bundesland. Andererseits haben wir ein hohes Gut, die Freizügigkeit, und man kann einer Gegend, in der keiner wohnen will, Bauland nicht aufdrängen. Wo keine wirtschaftliche Dynamik ist, gehen die Leute weg.

Die Schere öffnet sich

Schüler auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz versuchen ja wenigstens noch, am Ort zu bleiben, aber wer studieren will, geht sowieso weg. Und von denen kommen die wenigsten zurück. Es gibt hier keine Arbeitsplätze für sie, und so kommen nur 10 bis 15 % derer, die studiert haben, zurück – und von ihnen gehen die, die eine Familie gründen wollen, die also, die die Reproduktionsrate erbringen sollen, ins Umland. Anders ist das nur in den Ballungsgebieten, die ja noch wachsen.

Aber wir haben den Bevölkerungsschwund doch bundesweit.
Das stimmt, aber eben ungleichmäßig. Die Ballungsgebiete wachsen noch, aber überall dort, wo eine wirtschaftliche Mangelstruktur ist, ist der Schwund stärker. Nehmen wir z.B. Wolfsburg. Man sollte denken, dass Leute da hinziehen, denn VW ist ein großer Arbeitgeber. Aber Wolfsburg schrumpft auch überdurchschnittlich schnell, denn es fehlt die Vielfalt.

Also können die Kommunen nichts anderes tun, als um Einwohner zu buhlen und mehr und mehr Bauland auszuweisen? Wenn man es nicht tut, tut es die Nachbargemeinde, und dann ist das Aus umso schneller da.
Nun, was am besten funktioniert, ist nicht eine Erweiterung des Baulandangebots, sondern die Erweiterung des Arbeitsplatzangebots, nicht nur zahlenmäßig, sondern vor allem von der Struktur her. Für Wilhelmshaven wären der JadeWeserPort und ein Biotechnologiezentrum hervorragend und würden mehr bringen als 500 weitere Arbeitsplätze bei der Bundeswehr. Das Angebot an Arbeit muss mehr in die Breite gehen. Dann kommen die Leute, und dann kommt die Nachfrage nach Wohnraum.

Nun, für die, die beim JadeWeserPort arbeiten würden, steht das Bauland ja schon in Schortens bereit.
Ja, in Schortens sind sie clever…

Wohnen und Arbeiten zusammenbringen

Wir müssen Wohnen und Arbeiten wieder näher zusammenbringen. Jetzt leiden wir unter den Auswirkungen der Zeit, als wir Wohnen und Arbeiten möglichst weit auseinander brachten. Das kann man jetzt durch den verstärkten Immissionsschutz wieder näher zusammenbringen. Aus der Definition der einzelnen Baugebiete – Wohn-, Gewerbe- und Mischgebiet – ergibt sich ein Schutzanspruch. Da kann schon der LKW, der dem Bäcker das Mehl bringt, zuviel Lärm oder Abgase bringen. Man hat sich in den letzen Jahren sehr streng an das Baunutzungsrecht gehalten. Kommunen waren in Sachen Genehmigung von Gewerbe auch übervorsichtig, um Klagen von Bürgern zu vermeiden, und haben eher mehr Abstand zwischen Wohnen und Gewerbe gehalten. Diese Distanzen müssen nun überwunden werden.

Wie beurteilen Sie die städtebauliche Entwicklung Wilhelmshavens?
Es wurde und wird zuviel in den Randgebieten gebaut. Sinnvoll war die Bebauung des Sportstadions Friedenstraße, wenn mir auch die Häuser nicht gefallen. Aber der Weg, Baulücken in der Stadt aufzufüllen, ist richtig. Natürlich würde ich niemals den Stadtpark antasten, aber der Kampf um die Auffüllung der Baulücken ist noch nicht beendet.
Als ich noch kommunalpolitisch tätig war, haben wir ein Baulückenkataster erstellt. Das ist jetzt etwa 12 Jahre her. Damals waren wir voller Euphorie und hofften, Bauwillige in der Stadt halten zu können. Schlimm für die Entwicklung Wilhelmshavens sind die Erbengemeinschaften. Eine Stadt mit wirtschaftlicher Mangelstruktur hat viel Wohnraum in der Hand von Erbengemeinschaften. Die Leute wohnen nicht vor Ort und haben kein Interesse an der Entwicklung der Stadt. Sie sind zufrieden, solange sie Geld aus dem Eigentum schlagen, und sie verkaufen nicht, solange sie daran verdienen.
Das Baulückenkataster war ein Schuss in den Ofen. Man hat für viel Geld lediglich festgestellt, dass wir hier jede Menge Platz haben. Eine Ausnahme ist die Marktstraße West, die aufgefüllt wurde, so dass die Leute aus Bant nun nicht durch Ödland laufen müssen, wenn sie in die Stadt gehen.

Und was sagen Sie zur Wohnstadt West?
Es wäre sinnvoll, wenn die neuen Wohngebiete bis an die Gewerbebetriebe an der Einfallstraße herankämen. Es fragt sich aber, ob die Leute, die sich da in aller Eile angesiedelt haben, von dem Arbeitsplatzangebot in ihrer Nähe profitieren oder ob sie sich ins Auto setzen und nach Zetel fahren.

Ich möchte zum Schluss noch einmal auf die Bundestagsrede zurückkommen. Sie sagten ja, es ging in der Debatte nur um den Ist-Zustand. Wir haben das hohe Gut der Freizügigkeit, es gibt die Landesentwicklungspläne und die Planungshoheit der Kommunen. Bestehen da denn überhaupt Möglichkeiten, mit Bundesgesetzen die weitere Fehlentwicklung zu verhindern?
Nein, zurzeit nicht. Das einzige, was funktionieren würde, wäre, wenn es nicht funktioniert. Also: Wenn man Wohnbaugebiete ausweist, die nicht angenommen werden, dann könnte die Aufsichtsbehörde beim nächsten Antrag die Genehmigung verweigern.
Ich wurde aufgrund des Gegenwind-Artikels ja nach Bockhorn zur Agenda 21-Gruppe eingeladen. Da gibt es haarsträubende Pläne. Das ist eine Gemeinde von etwa 7000 Einwohnern, und man will daraus über den Flächennutzungsplan eine kleine Stadt von 10.000 Einwohnern machen. Das wäre fatal, denn die Struktur des Ortskerns gibt das nicht her, und am Ende stehen da so amerikanische Einfamilienhaussiedlungen mit sonst nichts. Naja, wenn die Leute dann alt sind und nicht mehr Auto fahren können, wird dann noch ein Altenpflegeheim dazu gebaut.

Und ein Bundesgesetz zur Verhinderung solchen Schwachsinns ist nicht in Sicht?
Nein. Das Baugesetzbuch wurde erst in der letzten Legislaturperiode geändert, und nach so kurzer Zeit kann man nicht schon wieder Veränderungen einbringen. Was aber ansteht, ist die Novellierung der Baunutzungsverordnung, und z.B. an der Definition der einzelnen Gebiete (Gewerbe-, Wohn-, Mischgebiete) kann man etwas verändern.

Sollten Sie in der nächsten Legislaturperiode nicht mehr im Bundestag sein – könnten wir damit rechnen, dass Sie Ihre Kompetenz dann wieder in die Kommunalpolitik einbringen?
Eher nicht.

Schade. Trotzdem: Vielen Dank für das Gespräch.

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