Lieber nach Amerika
Einwanderung, Einbürgerung und Integration aus bevölkerungswissenschaftlicher Sicht
(noa) Etwa 40 Menschen deutscher und ausländischer Herkunft hörten und diskutierten am 24. September im Gemeindehaus der Christus- und Garnisonkirche den Vortrag „Deutschland im Spiegel von Zuwanderung und Integration“. Das Referat beschloss das „Mulikulturelle Café“ im Rahmen der Interkulturellen Woche 2000 als Teil der „Kirche am Meer“.
Prof. Dr. Rainer Münz, Bevölkerungswissenschaftler an der Humboldt-Universität Berlin und Mitglied der jüngst gegründeten Einwanderungskommission, kam am Ende gar nicht mehr auf die angekündigten Punkte „Schutzgesetze gegen Diskriminierung“ und „Einwanderungsgesetz“ zu sprechen, da sich schon nach dem geschichtlichen und soziologischen Teil eine rege Diskussion entspann.
Die Deutschen tun sich schwer mit der Einwanderung, denn Deutschland war bis vor einem halben Jahrhundert immer ein Auswanderungsland, so die erste These des Referenten. Aus Europa sind seit Beginn der Neuzeit insgesamt 60 Millionen Menschen nach Übersee bzw. nach Asien ausgewandert. Aus religiösen, politischen oder ökonomischen Gründen verließen zahlreiche Deutsche ihre Heimat, und das Deutsche Reich wie auch Preußen vorher sprach den Ausgewanderten nach zehn Jahren die Staatsbürgerschaft ab, damit diese Menschen im Ausland blieben.
Erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts kehrte sich das Verhältnis um. Die Nazis hatten noch eine halbe Million Menschen umgesiedelt in die eroberten Gebiete. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es eine massive Zuwanderung, zunächst durch die aus den ehemals deutschen Gebieten Vertriebenen, ab den 50er Jahren durch die Anwerbung von Gastarbeitern. Insgesamt verzeichnet Deutschland seither ein Plus von mindestens 12 Millionen Menschen. Vier Millionen kamen als Aussiedler aus Polen, Rumänien und der Sowjetunion bzw. ihren Nachfolgestaaten; bei dieser Zuwanderung gab es eine Spitze zu Beginn der 90er Jahre, wo jährlich 400.000 Menschen (im Vergleich zu 100.000 im Jahr jetzt) nach Deutschland kamen. Während dieser ganzen Zeit wurde immer behauptet, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei. Doch es kamen in diesem Zeitraum 30 Millionen ausländische Menschen nach Deutschland; 20 Millionen verließen Deutschland wieder.
Über die Ausländer weiß die Bevölkerungswissenschaft wesentlich mehr als über die Aussiedler. Das liegt am unterschiedlichen Status: Die Aussiedler bekommen deutsche Pässe und verschwinden damit aus der gesonderten statistischen Erfassung. Die Ausländer bleiben bis auf wenige Ausnahmen Ausländer und sind im Ausländerzentralregister erfasst. Dadurch weiß man z.B., dass 1,5 Millionen in Deutschland geborene Menschen einen ausländischen Pass haben.
Diesbezüglich gibt es seit dem 1.1.2000 neues Recht: Hier geborene Kinder sind automatisch Deutsche. Sie müssen sich zwischen ihrem 18. und 23. Jahr zwischen der deutschen Nationalität und der ihrer Eltern entscheiden.
Bei der Einbürgerung von Menschen ausländischer Herkunft gibt es große Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern, und zwar unabhängig von der politischen Farbe der Landesregierung. Bundesdurchschnittlich werden pro Jahr 1 % der Ausländer eingebürgert. Die im Vergleich zu anderen Ländern sehr zögerliche Einbürgerung liegt nicht nur daran, dass die Behörden es den Einbürgerungswilligen schwer machen. Die Hälfte aller in Deutschland lebenden Ausländer sind schon seit über zehn Jahren hier und könnten ohne weiteres einen entsprechenden Antrag stellen, doch nur wenige sind interessiert.
Von den hier lebenden Ausländern sind 20 % EU-Bürger und haben, solange sie nicht sozialhilfeabhängig werden, die Garantie, hier bleiben zu können. 40 % haben aus anderen Gründen eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis und damit Schutz vor Abschiebung. Kleinere Gruppen halten sich hier zum Zweck einer Ausbildung vorübergehend auf, sind abgelehnte, aber geduldete Asylbewerber oder aus anderen Gründen aufenthaltsberechtigt. Die 18 % „Anderen“, die das Ausländerzentralregister erfasst hat, könnten „Karteileichen“ sein; hierfür spricht die Tatsache, dass bei der letzten Volkszählung 400.000 fehlten.
Wirklich interessant ist die Verteilung der Ausländer nach alten und neuen Bundesländern, besonders, wenn man die Statistik über Straftaten mit ausländerfeindlichem Hintergrund dazu betrachtet: Lediglich 3 % der Menschen mit fremdem Pass wohnen in den neuen Bundesländern, wo die meisten Übergriffe gegen Fremde stattfinden. In Bundesländern mit einem hohen Anteil ausländischer Mitbürger gibt es deutlich weniger solche Taten. Das spricht für die These, dass die Ausländerfeindlichkeit in dem Maß abnehmen wird, in dem Ausländer zuwandern.
Münz tritt für die Öffnung Deutschlands als Einwanderungsland ein, und er ist dafür, dass Eingewanderte auch schnell eingebürgert werden. Der wichtigste Grund, den er dafür nannte, ist die Entwicklung der Bevölkerungszahl, die man ja gut vorausberechnen kann. Im Jahr 2040 werden in Deutschland 25 Millionen Menschen weniger als heute leben. Die Alterspyramide Deutschlands (wie auch anderer europäischer Länder) wird auf dem Kopf stehen; die zahlenmäßig größte (und dann noch wachsende) Bevölkerungsgruppe werden die Menschen im Rentenalter sein. Die einzige Abhilfe wäre Einwanderung.
Die Erweiterung der Europäischen Union wird keinen nennenswerten Zustrom an Menschen (Arbeitskräften!) bringen, denn in den anderen EU-Ländern (und auch in den nicht der EU angehörenden europäischen Ländern außer Albanien und Kosovo) schrumpft die Bevölkerung.
Eine politische Wende in dem Sinne, dass Deutschland sich zum Einwanderungsland erklärt und Fremde willkommen heißt, ist trotz dieser Daten und Fakten nicht zu erwarten. „Es geht nicht nur darum, was Politiker verstehen und einsehen, sondern auch darum, was mehrheitsfähig ist. Politiker wollen wiedergewählt werden“, gibt Münz zu bedenken. Und selbst, wenn es eine gesetzliche Regelung der Einwanderung gäbe, steht nicht unbedingt zu erwarten, dass ausgerechnet Deutschland zum „gelobten Land“ würde. Münz nannte die Greencard-Aktion einen Test: Sie ist nicht nur deswegen zu einem Flop geworden, weil die Bedingungen für die eingeladenen Arbeitskräfte zu schlecht waren (nur fünf Jahre Aufenthaltserlaubnis, keine Erlaubnis, Familienangehörige mitzubringen), sondern weil die Zielgruppe – Computerfachleute aus Indien – lieber in englischsprachige Länder als nach Deutschland migriert.
Wie organisiert sich eine Gesellschaft, die überwiegend aus alten Menschen besteht? Wer produziert die Waren, die benötigt werden? Wer zahlt unsere Rente, wer kauft unsere wegen Altersicherung zugelegten Aktienpakete, wer schiebt unseren Rollstuhl? Alterspyramide, Geburtenrate und Sterbestatistik. Prof. Dr. Rainer Münz’ Zahlenmaterial belegt eindeutig: Deutschland vergreist. Weil ähnliche Bevölkerungsentwicklungen in ganz Nord- und Westeuropa drohen, müssen wir uns sputen. Der Wettlauf um Zuwanderung beginnt jetzt. Wer nicht will, dass in spätestens 20 Jahren das Rentenalter auf 75 heraufgesetzt wird und die Wochenarbeitszeit auf 50 Stunden ausgedehnt wird, muss jetzt sicherstellen, dass genügend Menschen aus aller Welt den Standort Deutschland zu ihrem Lebensmittelpunkt wählen. Solche Flops wie die Greencard-Aktion darf man sich nicht oft leisten. Wir müssen junge Menschen auffordern, zu uns zu kommen aus all den Regionen, die bisher lediglich als Rohstofflager oder folkloristisch attraktiver Reproduktionsort mit Sonnengarantie bekannt waren. Ausländer werden gebraucht, sie sichern unsere Zukunft!
Wenn so gedacht wird, mag es durchaus zur Folge haben, dass sich die objektive Sicherheitslage eines jungen arbeitsfähigen Schwarzafrikaners in Mecklenburg-Vorpommern entscheidend verbessert. Sei es, weil auch dem einfältigsten Glatzkopf bewusst wird, dass seine Rente in Gefahr ist, oder sei es, weil ein starker Staat wieder das Gewaltmonopol in die Hand nimmt und ausschließlich selbst bestimmt, wer hier von Nutzen ist. Aber – über das primär ökonomische Interessensabwägen wird sich keine Gesellschaft bilden, die den Namen „multikulturell“ verdient. Wirtschaftliche Interessen am ausländischen Mitbürger herauszustellen sind das falscheste Instrument gegen Ausländerfeindlichkeit und für multikulturelle Vielfalt in unserer Gesellschaft.
Uwe Brams
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