Depressionen
Nov 042009
 

Reine Nervensache

Arbeitskreis „Frauen und Gesundheit“ klärt über Depressionen auf

(iz) „Stell dich nicht so an!“ – „Dir geht es doch eigentlich ganz gut!“ Ein Fünftel aller Menschen leidet nicht nur unter Depressionen, sondern auch unter herablassenden oder wohlgemeinten Sprüchen aus dem Freundes- und Familienkreis. Bei einem Vortragsabend des Arbeitskreises „Frauen und Gesundheit“ wurde mit Vorurteilen aufgeräumt: Depressionen beruhen auf einer organischen Erkrankung und müssen als solche ernst genommen und richtig therapiert werden. Informationen zur Selbsthilfe machten Betroffenen Mut.

Der Arbeitskreis „Frauen und Gesundheit“ ist eine Initiative von Pro Familia, des Gesundheitsamtes, des Altenhilfe-Besuchsdienstes und der Gleichstellungsbeauftragten. In loser Reihenfolge werden Vortrags- und Filmabende zu verschiedenen gesundheitlichen Themen angeboten. Wegen des großen Interesses wurde das Thema Depressionen jetzt zum zweiten Mal aufgegriffen. Dr. Antje Zitzelsberger, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie an der Psychiatrischen Institutsambulanz des Reinhard-Nieter-Krankenhauses, erläuterte in ihrem anschaulichen Vortrag anhand lebensnaher Beispiele Ursachen und Symptome der verschiedenen Formen von Depressionen und Therapiemöglichkeiten. Zunächst machte sie deutlich, dass die Depression eine organische Erkrankung ist wie Diabetes oder Herzinsuffizienz, und somit alles andere als pure Einbildung, die man durch „Selbstdisziplin“ einfach abschütteln könnte. Für Laien verständlich erklärte Zitzelsberger, was da passiert: Das Gehirn besteht aus etwa 20 Milliarden Nervenzellen, die über mehr als 20 verschiedene chemische Botenstoffe miteinander korrespondieren. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Hormon Serotonin, das Gefühle, Antrieb und Denken steuert. Das Steuerungssystem ist, so Zitzelsberger, hoch komplex und störanfällig – „ich wundere mich, dass es überhaupt Menschen gibt, wo es funktioniert“. Schwankungen im Serotonin-Stoffwechsel kennt jeder Mensch. Bei den meisten hilft eine Tasse Kaffee mehr, den „Montag-Morgen-Blues“ zu überwinden. Wird aber bei der Schwankung die kritische Grenze überschritten, kippt das gesamte Botenstoff-System um. Depression ist eine der häufigsten psychischen Erkrankungen: 20% aller Frauen und 15% der Männer sind betroffen. Die Differenz lässt sich auch daraus erklären, dass Männer eine höhere Schwelle haben, ehe sie zum Arzt gehen.

Besser Hämorrhoiden
Depressionen sind negativ stigmatisiert. Ein Magengeschwür ist gesellschaftsfähig, bei Hämorrhoiden wird es schon kritisch, aber wer sich offen zu Depressionen „bekennt“, läuft große Gefahr, von so genannten Kollegen und Freunden belächelt zu werden: „Die / der hat’s ein bisschen mit den Nerven“. Gegen die damit einhergehende Antriebsschwäche – bei gleichzeitiger quälender innerer Unruhe – können Betroffene ebenso wenig aus eigener Kraft angehen wie bei einer Schilddrüsenerkrankung, die Ähnliches bewirkt. Alltägliche Verrichtungen bis hin zum Aufstehen, Duschen, Anziehen werden unmöglich. Weitere Symptome sind „Schwarze Löcher“ in der Gefühlswelt (keine Freude, keine Trauer), die Erkrankte als fürchterlich empfinden. Das Denken verändert sich (langsamer, unkonzentriert). Der „Appetit aufs Leben“ geht verloren, das Essen schmeckt fade, die Sexualität vermindert sich. Hinzu kommen negative Körpergefühle wie Kopfdruck und Muskelschmerzen.

Lebensgefahr
Depressionen sind eine potenziell tödliche Erkrankung. 60-80% der schwer Depressiven haben Suizidgedanken. Ein großer Irrtum ist die „Volksweisheit“, dass jene, die über Selbstmordgedanken sprechen, es dann sicher nicht tun: 80% der erfolgreichen Suizide wurden vorher angekündigt. Für das Umfeld sollten solche Äußerungen ein Alarmsignal sein, das sofortiges Eingreifen erfordert. Betroffene brauchen umgehend psychiatrische Hilfe; wenn sie diese verweigern, kann dies bis zur Zwangseinweisung gehen. Doch auch bei weniger drastischen Fällen gilt: Freunde und Angehörige können und dürfen nie den Therapeuten spielen! Dazu fehlt neben den medizinischen Kenntnissen einfach die nötige, objektive Distanz. Wer helfen will, sollte die Betroffenen zu einer fachlichen Therapie bewegen. Daneben kann man ihnen natürlich belastende Dinge abnehmen, wobei es falsch wäre, sie gar nicht mehr zu fordern. Das richtige Maß erfordert Fingerspitzengefühl.

Diagnose mit Gefühl
Der erste Gang führt meist zum Hausarzt. Der stellt oftmals fest: Die Laborergebnisse sind gut – Patient gesund. Leider lässt sich der Serotinspiegel über eine Blut-Probe nicht messen, da das Hormon die so genannte Blut.Hirn-Schranke nicht überwindet. Gut darstellbar sind Veränderungen der Hirnstrukturen, doch ist diese Untersuchung mit Strahlenbelastung verbunden und hohen Kosten, die die Kassen nicht übernehmen. Ein einfühlsamer Hausarzt sollte dem Patienten, der Symptome schildert, mehr vertrauen als der Laboranalyse und an den/die Fachkolleg/in überweisen. Auf die Gefahr hin, dass der Patient sich nun von allen unverstanden fühlt: „Sogar mein Hausarzt schickt mich zum Irrenarzt!“

Ursachen und Auslöser
Wie andere organische Erkrankungen, hat auch die Depression sowohl angeborene wie auch erworbene Ursachen. Wissenschaftliche Erkenntnisse schwanken zwischen Anteilen von 40 und 60% genetischer Faktoren. Die nächsten Anlagen werden in der Kindheit geschaffen. Wer es nicht lernt, Frustrationen und Niederlagen als Teil des Lebens zu akzeptieren, wird später anfälliger für Depressionen. Stress in Schule und Beruf tut ein weiteres dazu. Einschneidende Lebensereignisse wie Verlusterfahrungen, Kündigung o. ä. sind schließlich bei 70-80% der Betroffenen der endgültige Auslöser, der buchstäbliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bzw. den Serotoninspiegel endgültig aus der Waage bringt. Ein Auslöser für Depressionen können auch chronische Schmerzen sein. Frauen haben ein zusätzliches Risiko durch Hormonschwankungen nach der Schwangerschaft oder während der Wechseljahre, die in der Regel aber leichtgradige bzw. kurzfristige Depressionen hervorrufen. Manche haben eben „Nerven wie Drahtseile“, andere sind „nah am Wasser gebaut“. Das „Stressvulnerabilitätsmodell“ (Verletzlichkeit) geht davon aus, dass viele Faktoren zusammenkommen, bis eine Depression ausgelöst wird. Wer einmal einen Depressionsschub hatte, muss mit 80-90% Wahrscheinlichkeit damit rechnen, erneut zu erkranken.

Therapie
Dass die Depression eine organische Erkrankung ist, bedeutet auch: Sie ist gut behandelbar. Für verschiedene Formen der Depressionen gibt es unterschiedliche Medikamente und die Ärztin oder der Arzt und der/die Patientin müssen gemeinsam herausfinden, welches wirksam ist. Antidepressiva machen nicht abhängig, denn sie docken nicht an den Sucht-Rezeptoren im Nervensystem an. Allerdings haben alle Medikamente Nebenwirkungen und eine Prophylaxe ist damit nicht möglich. Neben Medikamenten hilft auch eine veränderte Lebensführung. Zitzelsberger empfiehlt, „in der Stress-Schale aufzuräumen“. Betroffene müssen herausfinden, was sie besonders belastet, welche Situationen sie vermeiden sollten. Umgekehrt muss die Schale mit positiven Erlebnissen aufgefüllt werden, um das Gleichgewicht wieder herzustellen. Hilfreich ist zudem körperliche Aktivität (2-3mal die Woche 45 bis 90 Minuten), die bei leichter Depression ebenso erfolgreich wirkt wie ein Antidepressivum. Die Gesprächstherapie fordert den Betroffenen im Vorfeld viel Geduld und Hartnäckigkeit ab (die bei Antriebsschwäche nicht gerade gegeben ist): Bis zu 12 Monate Wartezeit sind einzukalkulieren bis zur Aufnahme bei Therapeut/innen, die völlig ausgebucht sind. Woran liegt das? Gibt es heute mehr Depressive als früher? Eine Zuschauerin stellte die These auf, dass es in früheren Zeiten mehr „Disziplin“ und „Haltung“ gab. Schließlich seien z. B. im Krieg zahlreiche Frauen durch Vergewaltigungen und andere Erlebnisse traumatisiert worden, aber die hätten sich – sinngemäß – „zusammengerissen“, statt depressiv zu werden. Wirklich? Schon in den 1960er Jahren besangen die Rolling Stones „Mother’s little helper“ = kleine Pillen, mit denen die Betroffenen sich ruhig stellten und aus Schamgefühl auch die Probleme in sich hineinfraßen. Depressionen sind heute nicht häufiger, aber sie werden häufiger als Krankheit erkannt. Zum Thema „sich einfach zusammenreißen“ bemerkte eine andere Zuschauerin treffend: „Das ist, als ob man jemanden mit gebrochenem Bein zu einem 100 –m- Lauf überreden wollte“.

I see a red door and I want it painted black
No colors anymore I want them to turn black
I see the girls walk by dressed in their summer clothes
I have to turn my head until my darkness goes
I look inside myself and see my heart is black
I see my red door and it has been painted black
Maybe then I’ll fade away and not have to face the facts
Its not easy facin’ up when your whole world is black
(Jagger/Richards)

„Kids are different today“ I hear ev’ry mother say
Mother needs something today to calm her down
And though she’s not really ill
There’s a little yellow pill
She goes running for the shelter of a mother’s little helper
And it helps her on her way, gets her through her busy day
Doctor please, some more of these
Outside the door, she took four more
What a drag it is getting old …
(Jagger/Richards)

 

„Trau dich!“
Etwas zu wissenschaftlich-theoretisch war der zweite Vortrag von Rabea Naffati, Psychologin im Sozialpsychiatrischen Dienst, über Behandlungsmöglichkeiten mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie. Sehr hilfreich hingegen die abschließenden Ausführungen von Anke Wellnitz zum Thema Selbsthilfegruppen, die Betroffene ermutigten, sich einer Selbsthilfegruppe anzuschließen oder eine solche zu gründen, „Expertinnen in eigener Sache“ zu werden. 45 solcher Gruppen gibt es mittlerweile in Wilhelmshaven, die, ergänzend zu professioneller Hilfe, raus aus der Isolation führen. Die Teilnehmer/innen tauschen ihre Erfahrungen aus, können offen sein unter Menschen, denen sie nichts groß erklären müssen, die aus eigenem Erleben das grundlegende verstehen. Seit 2008 leitet Frau Wellnitz Betroffene „durch das Gewirr der Helfenden“ und unterstützt sie bei der Gründung von Selbsthilfegruppen. Beate Czaika berichtete als Mitglied einer solchen Gruppe von ihren Erfahrungen. Alle 14 Tage trifft sich die Gruppe von etwa 8 Personen und tauscht Erfahrungen aus, Gefühle, Wahrnehmungen, Erfolge, Rückschläge, Erfahrungen zu Medikamenten und Therapeut/innen. Die Gruppe trifft sich zu gemeinsamen Unternehmungen – und wenn nötig, nimmt man sich  gegenseitig in den Arm. Frau Czaika zeigte mit ihrer Bereitschaft, offen und spontan über ihre Erfahrungen zu berichten, dass Selbsthilfegruppen mutig und stark machen. Eine bessere Ermunterung konnte es am Ende dieses wichtigen Informationsabends nicht geben.

Kontaktmöglichkeiten für Betroffene – Frauen und Männer, die unter Angst, Panik oder Depressionen leiden
Selbsthilfekontaktstelle Wilhelmshaven, Anke Wellnitz, Tel. 04421-292-74777, email seko-wellnitz@t-online.de
Beate Czaika, Tel. 04423-2260, email
bczaika@gmx.net


Sorry, the comment form is closed at this time.

go Top