Demografie
Jul 212004
 

Ernst, aber nicht hoffnungslos

Stadtbaurat geht der Schrumpfung auf den Grund

(iz) In einer bundesweiten Demografie-Studie hat Wilhelmshaven sehr schlecht abgeschnitten. Teile von Politik und Verwaltung reagierten schockiert und ablehnend, obwohl die Fleißarbeit der Forscher als Hilfestellung für konkrete Veränderungen gedacht war. Stadtbaurat Klaus Kottek hat sich konstruktiv damit beschäftigt und sieht Chancen wie Grenzen unserer Stadtentwicklung erfrischend realistisch.

„Die demografische Entwicklung und ihre Auswirkung auf unsere Stadt“ betitelte Kottek seinen Vortrag, zu dem sich kaum 20 Mitglieder verschiedener SPD-Ortsvereine (immerhin trotz Fußball-EM) im „Pelikan“ einfanden. Die erkenntnisreichen Ausführungen boten Stoff für eine offen wie sachlich ausgetragene Diskussion. An Hand einiger Tabellen und Grafiken aus dem „Stadtistik-Report“ erläuterte Kottek wesentliche Trends und Fakten mit wohltuender Offenheit und ohne sie schön zu reden.

Differenzierte Betrachtung

Das Berliner Forschungsinstitut für Demografie hatte prognostiziert, dass die Wilhelmshavener Bevölkerung bis 2020 um mehr als 15 Prozent schrumpfen wird. Einige falsche Datengrundlagen hatten im Vorfeld zu Zweifeln am Wahrheitsgehalt der gesamten Studie geführt. Kottek stellte das differenzierter dar. Die Landesstatistik wird aus organisatorischen Gründen nur alle 10 Jahre bereinigt. Es sind genau 3 Jahre (1996-98), die als „Ausreißer“ bei der Trendberechnung ein verzerrtes Bild ergeben. Demnach würde es 2016 nur noch 70.350 WilhelmshavenerInnen geben. Kottek zeigte den bereinigten Trend in verschiedenen Varianten:

IF

Der Stadtbaurat ließ keinen Zweifel daran, dass sich trotz bereinigter Prognose und allen Anstrengungen die Einwohnerzahl schwerlich stabilisieren lassen wird. „Die Strukturen werden so eintreffen wie vom Landesamt vorhergesagt. Da kommen wir nicht dran vorbei – egal welche Bevölkerungspolitik wir machen. Selbst mit der bereinigten Prognose kann man keine Werbung machen.“

Die Konkurrenz schläft nicht

Ziel müsste zunächst sein, die derzeitige Zuwanderung zu halten. „Wichtig ist es, bei allen Maßnahmen der Erste zu sein – weil alle Städte um Einwohner kämpfen.“ Ein wichtiger Aspekt, der überzogenen Optimismus dämpft und ein hohes Maß an Kreativität einfordert.
Schrumpfende Einwohnerzahlen wirken sich auf die Infrastruktur wie z. B. Schwimmbäder aus: Gleichbleibende Fixkosten müssen auf immer weniger Nutzer umgelegt werden. Hohe Nutzungspreise senken die Nachfrage. Müssen Einrichtungen geschlossen werden, wird die Lebensqualität in der Stadt weiter geschmälert: Teufelskreis. Die Kosten-Unterdeckung wird nach Kotteks Schätzung von jetzt 19,5 Mio Euro bis 2016 auf 21,6 Mio ansteigen. Nach Kotteks Einschätzung müsste man alle Bäder „einstampfen“ bis auf ein Spaßbad, das sich von umliegenden Angeboten wie Tossens und Schortens abhebt.
„Hätte man sich damals schon Gedanken über die Bevölkerungsentwicklung gemacht, hätte man sich aufwändige Ver- und Entsorgungsnetze gespart und dezentrale Varianten wie Wurzelraum-Kläranlagen und Blockheizkraftwerke gebaut“, bedauert Kottek. (Anm.: Die Planer der Ökosiedlung, die damals von konservativen Kräften verdammt und nicht genehmigt wurde, hatten genau das vorgehabt. Das war vor Kotteks Zeit in WHV.)
„Auch der Einzelhandel muss von außen leben“ begründet Kottek die umstrittene Maßnahme, das „Schaufenster der Stadt“, die östliche Marktstraße, neu zu gestalten. (Anm.: Auch der Einzelhandel in der Göker- und Bismarckstraße will überleben – von dem Geld, das jetzt in der Marktstraße versenkt wird, sollte eigentlich eine Markthalle auf dem Bismarckplatz gebaut werden.)

Innerstädtische Migration

Bei der Stadtteilentwicklung wird deutlich, dass alt eingesessene Wohnquartiere (Innenstadt, Bant) nach einem kurzen Wachstumsschub seit 1992 zusammen gut 4000 EinwohnerInnen verloren, Trabantensiedlungen wie Maadebogen und Schaar (West) derweil um etwa 2000 Menschen zugelegt haben. Allein Tonndeich, beklagte ein Anwohner, habe in den letzten 8 Jahren 20% seiner Bevölkerung verloren.

Überörtliche Migration

Ein Vergleich der Bevölkerungsentwicklung im Umland (1989 – 2002) verdeutlicht die Sonderstellung von WHV. Stärkster Gewinner ist Oldenburg mit über 10 Prozent Bevölkerungszunahme. Es folgen Friesland (>8% ), für Kottek die „Halskrause“ für Abwanderer aus WHV, und Delmenhorst und Emden (jeweils >2%). WHV hat im gleichen Zeitraum knapp 6% seiner Bevölkerung verloren. Während die Einwohnerschaft von Delmenhorst und Emden seit ein paar Jahren mit leichtem Abwärtstrend stagniert, konnte Oldenburg allein 2002 fast 1500 NeubürgerInnen begrüßen. In Friesland sind es im Schnitt immer noch gut 600 jährlich.
Ausschlaggebend für die Entwicklung sind natürliche Bewegungen, also Geburten und Sterbefälle, und Wanderungsbewegungen. Interessant ist dabei, woher die Leute kommen bzw. wohin sie umziehen (1996-2002): Wichtigstes Austauschgebiet ist der Landkreis Friesland. Im Berichtszeitraum zogen jährlich 800 bis 900 FriesländerInnen nach WHV, mit leicht steigender Tendenz. Umgekehrt zogen anfangs um die 1.300 Menschen jährlich von WHV nach FRI, seit der Jahrtausendwende jedoch mit deutlichem Abwärtstrend Richtung 1.000 pro Jahr. Unterm Strich (Zu-/Abwanderung) verlor WHV 1996 noch 563 BürgerInnen an Friesland; 2002 waren es nur noch 132.
Die Stadt Oldenburg gewann im gleichen Zeitraum gleichbleibend 30 Bürgerinnen jährlich aus WHV.
Weser-Ems insgesamt hat über die Jahre jährlich etwa 500 Leute aus WHV abgezogen, doch in letzter Zeit hat sich der Trend deutlich auf 100 reduziert. Bezogen auf das ganze Bundesgebiet ergibt sich seit 2001 sogar ein Gewinn (s. Grafik).
Fernwanderungen sind, so Kottek, in erster Linie arbeitsplatzbedingt. Die Nahwanderungen erklärt er durch die Möglichkeit, im Umland billiger zu wohnen. Den Zuwanderungsschub der letzten zwei Jahre erklärt er mit der massiven Ausweisung von Einfamilienhaus-Gebieten: „Wir liegen in der richtigen Richtung.“
Von 1975 (103.417 Einwohner) bis 2002 (84.752) hat Wilhelmshaven fast 18 Prozent seiner Bevölkerung verloren.

Fakten verdrängt

Kottek zeigte auf, dass die Bevölkerungspyramide – im Stadtistik-Report „Lebensbaum“ genannt – mehr ist als die statische Erfassung der Frauen und Männer aller Altersstufen: „Er lässt sich lesen wie ein Fußabdruck“. Durch Übereinanderlegen zweier „Lebensbäume“ aus verschiedenen Dekaden (1990 / 2002) wurde deutlich, dass sich bestimmte Entwicklungen auf der Zeitachse fortsetzen. „Die 25- bis 35-Jährigen sind uns damals schon abhanden gekommen“. Warum Frauen in dieser Altersgruppe in WHV deutlich seltener sind als Männer, vermochte er uns nicht zu erklären. (Anm.: Laut Demografiestudie sind vor allem hoch qualifizierte Frauen sehr mobil, wenn sie in ihrer Region keine Arbeit finden.)
Schon jetzt ist absehbar, dass es in 15 – 20 Jahren „nur 300 bis 450 gebärfähige Frauen je Jahrgang geben wird“ – die jetzigen Grundschülerinnen. Seine Bemerkung, Männer seien relativ unwichtig für die Geburtenziffer, stieß zwar auf Protest der anwesenden Geschlechtsgenossen, ist aber biologisch richtig – schließlich können sie sich deutlich öfter als alle 9 Monate reproduzieren.
Kotteks Schlussfolgerung aus den Lebensbaum-Vergleichen: „Müssen Politiker heute wirklich überrascht sein von der demografischen Entwicklung? Haben sie Vorhersehbares nicht eher jahrelang verdrängt?“ Man hätte also schon vor Jahren gegensteuern können. Die Grafik zeigt den Wilhelmshavener Lebensbaum vereinfacht (Altersgruppen in Prozent)..

Rundum sorglos

Wie kriegt man nun Leute nach Wilhelmshaven? „NeubürgerInnen möchten attraktiv und adäquat wohnen. Sie werden nicht in Wohnungen in der Weserstraße wohnen wollen“, glaubt Kottek. „Das scheint paradox, aber wir kommen nicht dagegen an.“ Ein Teilnehmer kritisierte, dass mit jeder Neubausiedlung städtische Natur zerstört wird. Dazu Kottek: “Die Artenvielfalt ist in Hausgärten viel höher als bei der vorausgegangenen landwirtschaftlichen Nutzung.“ (Das ist in dieser pauschalen Form nicht haltbar – eine extensiv genutzte landwirtschaftliche Grünlandfläche ist ökologisch wertvoller als ein mit Terrasse, Carport, Begonien und Bodendeckern garnierter Hausgarten – und für viel mehr lassen die Minigrundstücke z. B. im Maadetal kaum Platz).
Man verspricht sich viel von einer geplanten Neubürgeragentur. Vernünftig scheint, dass man sich bestimmte Zielgruppen angucken will, denen dann ein Rundum-Sorglos-Paket angeboten werden soll: Umzugshilfen, Zuschüsse, zinslose Kredite. Kottek hat die „Einfamilienhaussucher mit Arbeitsplatz in Oldenburg“ im Auge: „Von den neuen Wohngebieten ist man in 25 Minuten in Oldenburg. Das ist zwar nicht gerade ökologisch, aber das Hemd ist uns näher als die Hose.“ Dann sind da ältere Menschen, die sich verkleinern möchten, weil die Kinder aus dem Haus sind. Denen will man helfen, ihr Haus zu verkaufen und eine altengerechte Wohnung zu finden. Die Einpendler, die ebenso gut auch in WHV wohnen können, wenn sie schon hier arbeiten. Die „Spätheimkehrer“, die mit Eintritt ins Rentenalter in ihre Heimatstadt WHV zurück wollen. Und schließlich die Leute, die eine Zweitwohnung am Wasser fürs Wochenende suchen.
Damit Interessenten nicht frustriert werden, soll evtl. ein Call-Center den Informationsservice für die Neubürgeragentur übernehmen. „Wenn Interessenten am Wochenende mehrmals anrufen und keinen erreichen, haben die schon keine Lust mehr, herzukommen.“
Kottek präsentierte einen Anzeigenprospekt, der an berufliche Einpendler in WHV verteilt und als Annonce über die Zeitungen in Weser-Ems verbreitet wurde. Mit „Mieten ab 3,60 €/m²“ warb man in der WELT.
Eine weitere Idee ist das „Verwöhnwochenende für Unternehmer“, die sich hier wohl fühlen und dann niederlassen sollen.

JadeWeserPort kein Allheilmittel

In der anschließenden Diskussion bestand Einigkeit, dass der JadeWeserPort nicht das einzige Projekt bleiben darf, um die wirtschaftliche und soziale Struktur der Stadt zu verbessern. Im Landesraumordnungsprogramm sei nun mal die industrielle Nutzung der nordöstlichen Stadt vorgesehen, erklärte Kottek, andere Projekte werden vom Land nicht bezuschusst. Trotzdem sei es dringend erforderlich, den Mittelstand mehr zu fördern. Eine Teilnehmein merkte an, durch den geplanten Hafen werde die Stadt nicht schöner; Leute im Stadtnorden würden jetzt schon ihre Häuser verkaufen. Man registriert ein „Unwohlsein“ ob des Ports „in weiten Teilen der Bevölkerung“, aber, so Kottek: „Wir haben keine Alternative.“

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